Curt Goetz, Dr. med. Hiob Prätorius


Nack: Hiob! Ich suche dich wie eine Stecknadel.

Prätorius: Und ich suche Spiter. Ich muss wegen der gestrigen Autopsie1 etwas wissen.

Nack: Selbstverständlich. Jeder Arzt hat das Recht zu erfahren, woran seine Patienten gestorben sind! (Zur Klasse) Wo ist euer Höllenhund2?

Studenten: Wir wissen es nicht. Er hat sich verspätet. Vielleicht ist er krank?

Nack: (um Prätorius zu frotzeln) Warum bittet ihr nicht Professor Prätorius, ihn zu vertreten? Den Teufel halte, wer ihn hält!

Klasse: (begeistert) Bravo! Professor Prätorius soll reden! (Trampeln und Händeklatschen)

Prätorius: (leise zu Nack) Gemeiner Hund!

Nack: (ebenfalls applaudierend) Ein besonderer Reiz wird darin liegen, festzustellen, ob so ein gelehrtes Haus auch einmal unvorbereitet sprechen kann! (Verstärktes Trampeln)

Prätorius: Lasst euch nicht zum Narren halten! Ich bin ja nicht unvorbereitet. Im Augenblick, da ich eintrat und so viel weibliche Jugend hier versammelt sah, stand die Rede, die hier zu reden wäre, so plastisch vor mir wie eine Wand. Aber ich werde diese Rede nicht reden. Weder die, die ich reden möchte und nicht reden darf, noch die, die ich reden darf und nicht reden möchte! (Er hat sich unwillkürlich dem Rednerpult genähert und besteigt es jetzt) Ja, könnte ich mit euch jenen Nachen besteigen, der uns über das schwarze Gewässer zum anderen Ufer geleitet ... (Nack geht auf Zehenspitzen in die erste Reihe und setzt sich dazu) ... wo im Reiche der Vergangenheit die Schatten der Verstorbenen, makra bi-basa, wie wir wissen, - weitausschreitend - verweilen, und könnten wir dort als lernbegierige Zaungäste einen ersten Blick in die blauen Geheimnisse tun, welch wundervolles Abenteuer wäre das! Statt dessen sollen wir Ihnen hier am toten Fleische eines Menschen beweisen, dass er sterben musste und warum er sterben musste, ohne Ihnen gleichzeitig verraten zu können, warum wir Leuchten der Wissenschaft, obgleich wir wussten, dass er sterben musste, dieses nicht zu verhindern wussten. Weder wir noch irgendeine Macht dieser Erde hätte ihm helfen können, nachdem es dem Gevatter beliebte, sich seiner zu erinnern. Und wäre dieses letzte Geheimnis nicht um den Tod, so wäre unsere Aufgabe noch nüchterner, als sie es schon ist, unsere Aufgabe, die darin besteht, Ihnen, nachdem wir Ihnen das Wunder der Geburt entzaubert haben, nunmehr die Poesie des Todes zu zerstören. Denn nichts Majestätisches hat dieser Geselle! Kein Mittel ist ihm zu schlecht, keine Mikrobe zu winzig, kein Zufall zu läppisch. Er ist kleinlich, berechnend, hämisch und übelriechend! Nicht, dass wir ihn fürchten. Wenn wir bedenken, wie lange wir tot waren, ehe wir geboren wurden, ohne dass es uns gesundheitlich geschadet hat, müssen wir die Angst vor dem Tode verlieren. Aber es ist unsere Pflicht als Ärzte, ihn zu hassen! Von ganzem Herzen und von ganzer Seele. Es ist unser Beruf, ihn zu verabscheuen. Wir dürfen nicht müde werden, ihn zu belauschen, zu verfolgen, ihm auf die Finger zu klopfen. Und wenn wir ihm sein letztes Geheimnis nicht entlocken können, so wollen wir versuchen, ihm sein vorletztes zu entreißen!

Dazu aber ist es nötig, seine schmutzige Wühlarbeit rückwärts zu verfolgen. Wir müssen sehen, w i e e r e s g e m a c h t hat. Wir müssen die Kadaver öffnen. Auch Sie, meine Damen. Und zwar werden Sie nicht nur Ihre Nerven in der Gewalt haben, Sie werden die volle Wucht und Kraft Ihres Leibes ins Treffen führen müssen. Sie werden, um gewisse Zergliederungen vornehmen zu können, einen förmlichen Ringkampf mit den Leichen aufzuführen haben! - Haben Sie sich das überlegt?

Violetta: Jawohl, Herr Professor.

Prätorius: Das freut mich, trotzdem gestatten Sie mir, bevor ich dieses Leintuch wegziehe, hier, an der Schwelle des Todes, noch einmal zu Ihnen vom Leben zu sprechen! - Shunderson, veranlassen Sie, dass das verschwinde! (Zeigt auf die Bahre, Shunderson geht ab. Bald darauf versinkt die Bahre lautlos in die unter dem Seziersaal liegende Leichenhalle)

Violetta: Wir wollen ja nicht immer hier unten bleiben, Herr Professor.

Prätorius: Nein, Sie wollen, einem dringenden Bedürfnis nachzukommen, Ärztinnen werden! Kranke gesund machen! Bravo! Das macht viel Spaß, solange sie nicht daran sterben! Aber wo der Arzt ist, ist Krankheit. Und wo Krankheit ist, ist Tod! In dieser Gesellschaft werdet ihr euch euer Leben lang bewegen! Kinder, ich verstehe euch nicht! Ja, wenn ihr zehn Leben zu leben hättet und wolltet e i n e s auf diese Weise verbringen . . . , aber wo ihr nur das eine habt! Wisst ihr, wie schön die Welt ist?

Jack: Ja!

Prätorius: Nichts wisst ihr. Von Hungersnöten wisst ihr! Und von Nahrungsmitteln, die ins Meer versenkt werden! Von Völkern wisst ihr, die, um Heim und Leben zu schützen, sich Regierungen wählen. Und dann haben sie ihr Heim zu verlassen und ihr Leben zu geben, um diese Regierungen zu schützen! Millionen junger Menschen, die nicht kämpfen wollen, bekämpfen Millionen anderer junger Menschen, die auch nicht kämpfen wollen! Und die Errungenschaften der Wissenschaft haben wir zu keinem anderen Zweck errungen als um alles Errungene zu zertrümmern! Das ist die Welt von heute. Aber kann sich das m o r g e n nicht ändern? Löwenhook entdeckte die Mikrobe im Wassertropfen, Pasteur den Erreger der Tollwut, Ruox und Grasse kämpften erfolgreich gegen die Malaria. Und nach dem Gesetz, dass ein Mittel gegen eine Krankheit immer dann gefunden wird, wenn diese Krankheit ihren Höhepunkt erreicht hat, wenn sie schier unerträglich geworden ist, nach diesem Gesetz,

m u s s heute oder morgen die Mikrobe der menschlichen Dummheit gefunden werden - :


"Doch was dem Abgrund kühn entstiegen,

Kann durch ein ehernes Geschick

Den halben Weltkreis übersiegen ...

Zum Abgrund muss es doch zurück!"3


Und wenn es gelingt, ein Serum gegen die Dummheit zu finden, diese entsetzlichste aller ansteckenden Krankheiten, dann wird es im Nu keine Kriege mehr geben, und an die Stelle der internationalen Diplomatie wird der gesunde Menschenverstand treten! (Getrampel und Applaus) Die Dummheit tot! Welch phantastische Perspektive! - Nur in der Liebe, meine Lieben, wo sie jedes Maß übersteigt, da ist sie entzückend und liebenswert, und da sollten wir auch der Besiegten ein dauerndes Asylrecht gewähren. Und damit sind wir wieder beim Thema, bei Ihrem Thema, meine Damen, denn Ihr Thema ist die Liebe, nicht die Anatomie. Gelehrt sind wir genug. Was uns fehlt ist Freude, was wir brauchen, ist Hoffnung, was uns nottut, ist Zuversicht, wonach wir verschmachten, ist Frohsinn! - Wo sollen eure Kinder die Frohnatur hernehmen, wenn Mütterchen Knochen zersägt!? - Darum, meine Lieben, bei allem schuldigen Respekt vor der Wissenschaft, helfen S i e uns, den Tod zu bekämpfen

d e n Mitteln, die Ihnen Gott in Ihren Schoß gelegt hat: mit der Gnade, n e u e s Leben zu gebären! Bewahren Sie sich die Heiterkeit Ihres Gemütes für Ihre Kinder. Und, wenn es auch ein wenig altmodisch anmutet, kriegen sie welche!



makra bi-basa: ???



  1. 1(gr.), Leichenöffnung zur Feststellung der Todesursache, u. a. in der Gerichtsmedizin.

  1. 2Zerberus, in der griechischen Mythologie mehrköpfiger Höllenhund, Wächter vor dem Eingang zur Unterwelt.

  1. 3 J. W. v. Goethe, Des Epimenides Erwachen (Drama)

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