NYT: Was Putin den Amerikanern zu Syrien zu sagen hat

13:37 12/09/2013

MOSKAU, 12. September (RIA Novosti)

Der russische Präsident Wladimir Putin hat die Syrien-Frage zum Anlass genommen und sich überraschend an das amerikanische Volk und die politischen Entscheidungsträger gewandt –in Form eines Zeitungskommentars, der mit dem Titel „Ein Plädoyer für Zurückhaltung - Was Putin den Amerikanern zu Syrien zu sagen hat“ am Mittwochabend Ortszeit auf der Website der „New York Times“ erschienen ist.

Die Beziehungen zwischen Russland und den USA haben verschiedene Stadien hinter sich gelassen, beginnt Putin. „Im Kalten Krieg standen wir gegeneinander, aber wir waren auch einmal Verbündete, als wir gemeinsam die Nazis besiegten.“ Danach sei die Uno gegründet worden, damit derartige Verwüstungen nie wieder passieren.  

Gewaltanwendung ohne Uno-Zustimmung nicht zulässig

„Niemand will, dass die Uno das Schicksal des Völkerbunds wiederholt, der auseinander gefallen ist, weil er keine Hebel zur Einwirkung auf die internationale Situation hatte. Dies ist aber möglich, wenn einflussreiche Länder ihre Gewaltaktionen an der Uno vorbei und ohne Zustimmung des Sicherheitsrates unternehmen“, schreibt der russische Staatschef weiter.  

„Der potenzielle Schlag der Vereinigten Staaten gegen Syrien, trotz der entschiedenen Gegnerschaft vonseiten vieler Länder und politischer wie religiöser Führungspersönlichkeiten, darunter der Papst, wird zu noch mehr unschuldigen Opfern und einer Eskalation führen“, so Putin. Eine Ausbreitung des Konflikts „weit über die Grenzen Syriens“ sei wahrscheinlich, führt Putin aus. 

US-Schlag gegen Syrien bringt neue Welle des Terrors

Eine militärische Einmischung in den Syrien-Konflikt erhöht dem Kreml-Chef zufolge das Ausmaß der Gewalt und könnte eine neue Welle des Terrorismus losbrechen. Zudem könne eine Militäroperation Syrien die Bemühungen um eine Nahost-Regelung und Verhandlungen mit dem Iran über dessen Atomprogramm zunichtemachen, wodurch Recht und Ordnung in der ganzen Weltgemeinschaft aus dem Gleichgewicht zu geraten drohen. 

Der geplante Schlag „könnte die multilateralen Bemühungen zur Regulierung des iranischen Atomproblems und des israelisch-palästinensischen Konflikts unterwandern und zu einer weiteren Destabilisierung im Nahen Osten und in Nordafrika führen. Der Syrien-Schlag könnte das gesamte internationale Rechtssystem aus dem Lot bringen“, heißt es im Kommentar Putins.

Mehr Extremisten als Kämpfer für Demokratie

„In Syrien geht kein Kampf für die Demokratie vor sich, sondern eine bewaffnete Konfrontation zwischen der Regierung und der Opposition in einem multikonfessionellen Land. Dort gibt es nicht so viele Verfechter der Demokratie, aber es mangelt nicht an Extremisten aller Schattierungen und Al-Qaida-Anhängern.“

In diesem Zusammenhang wies Putin darauf hin, dass das US-Außenministerium selbst „Dschabhat an-Nusra“ und den „Islamischen Staat von Iran und Levante“, die auf der Seite der Oppositionellen kämpfen, als terroristische Organisationen eingestuft hat.

„Die innere Konfrontation, die von Anfang an durch die äußeren Waffenlieferungen an die Opposition angeheizt wurde, artete in einen der blutigsten Konflikte der Welt aus“, so der russische Präsident. „Dort kämpfen Söldner aus den arabischen Ländern, hunderte von Militanten aus dem Westen und sogar Russalnd sind für uns ein Grund zu großer Sorge. Könnten diese nicht mit der Erfahrung aus Syrien in unsere Länder zurückkehren? Nachdem sie in Libyen gekämpft hatten, zogen die Extremisten damals nach Mali weiter. Das ist eine Bedrohung für uns alle.“ 

Moskau schützt nicht Assad, sondern das Völkerrecht

„Russland bleibt seit Anbeginn seinem Kurs auf die Unterstützung des friedlichen Dialogs treu, der darauf abzielt, dass die Syrier selbst ein Kompromissmodell für die künftige Entwicklung des Landes ausarbeiten. Dabei schützen wir nicht die syrische Regierung, sondern die Normen des Völkerrechts. Wir betonen ständig, dass alle Handlungsmöglichkeiten des UN-Sicherheitsrates ausgeschöpft werden müssen“, so Putin.

 „In der gegenwärtigen komplizierten und turbulenten Welt ist die Wahrung der Rechtsordnung einer der wenigen Hebel, die in der Lage sind, die internationalen Beziehungen vor einem Abgleiten ins Chaos zu bewahren. Gesetz ist Gesetz. Seine Befolgung ist immer verbindlich, unabhängig davon, ob es einem gefällt oder nicht. Das geltende Völkerrecht bietet die Möglichkeit, Gewalt nur in zwei Fällen anzuwenden – entweder zur Selbstverteidigung oder auf Beschluss des Sicherheitsrates. Alles andere ist laut der Uno-Charta unzulässig und wird als Aggression ausgelegt“, heißt es im Artikel.

Giftgas-Attacke war Provokation von Extremisten – Israel nächstes Ziel

„Niemand stellt den Fakt in Zweifel, dass in Syrien chemische Kampfstoffe angewendet wurden. Allerdings besteht jeder Grund zur Annahme, dass das nicht die syrische Armee getan hat, sondern die Kräfte der Opposition – mit dem Ziel, eine Einmischung ihrer mächtigen Schirmherren aus dem Ausland zu provozieren, die sich in diesem Fall im Grunde genommen auf die Seite von Fundamentalisten geschlagen hätten.“ 

„Man darf nicht ignorieren, dass Informationen vorliegen, dass  die Extremisten eine neue chemische Attacke planen – diesmal auf Israel“, unterstrich der russische Staatschef.

Gewaltanwendung durch USA beunruhigende Routine

Die Tatsache, dass die gewaltsame Einmischung in innere Konflikte anderer Länder für die USA Routine geworden ist, ist beunruhigend, stellt Putin fest. „Gehört dies etwa zu den langfristigen Interessen Amerikas? Ich bezweifle das. Millionen Menschen in der ganzen Welt sehen in Amerika immer häufiger nicht ein Modell der Demokratie, sondern ein Land, das ausschließlich auf grobe Gewalt setzt und Koalitionen unter dem Motto ‚Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns‘ zusammenschmiedet .“

„Die Gewaltanwendung hat gezeigt, wie uneffektiv und sinnlos sie ist. Afghanistan fiebert, und niemand kann sagen, was dort nach dem Abzug der internationalen Kräfte geschieht. Libyen ist in Einflusszonen von Stämmen und Clans aufgeteilt. Im Irak dauert der Bürgerkrieg an, täglich kommen dort Dutzende von Menschen ums Leben“, so der russische Staatschef. „In den USA selbst sehen viele unmittelbare Ähnlichkeiten zwischen dem Irak und Syrien. Und man fragt in diesem Zusammenhang: Wozu würde die Regierung frühere Fehler wiederholen wollen?“

Unzuverlässiges Völkerrecht gefährdet Non-Proliferation

Die bisherigen Gewaltaktionen, bei denen modernste Waffen eingesetzt wurden, hätten zugleich gezeigt, dass Opfer unter der Zivilbevölkerung unvermeidlich sind, egal wie selektiv diese Schläge sein mögen. „Die Leidtragenden sind dabei in erster Linie Greise und Kinder, deren Leben man angeblich mit solchen Schlägen schützen will“, betont der Kreml-Chef. 

„Solche Gewaltaktionen lösen die gesetzmäßige Reaktion in der Welt aus: Wenn man sich nicht auf das Völkerrecht stützen kann, muss man nach anderen Varianten zur garantierten Gewährleistung der eigenen Sicherheit suchen. Deshalb sind immer mehr Länder bestrebt, in den Besitz von Massenvernichtungswaffen zu kommen. Da wirkt die einfache Logik: ‚Wenn du die Bombe hast, wird man dir nichts antun.‘ So kommt es dazu, dass man zwar verbal die Notwendigkeit der Festigung von Non-Proliferation betont, während in Wirklichkeit dieser Modus unterwühlt wird“, erläutert der russische Präsident. 

Die „Anwendung der Sprache der Gewalt“ müsse beendet werden, um „auf den Weg einer zivilisierten politisch-diplomatischen Regelung von Konflikten zurückzukehren“, schreibt Putin.

In den letzten Tagen habe sich eine neue Chance ergeben, ein militärisches Eingreifen zu verhindern. „Die USA, Russland und alle Mitglieder der Weltöffentlichkeit müssen die Bereitschaft der syrischen Regierung ausnützen, ihr chemisches Arsenal unter internationale Kontrolle zu stellen um es anschließend zu vernichten. Den Erklärungen von Präsident Obama nach sehen die USA dies als eine Alternative zu einer Militäroperation.“ 

„Wenn wir Gewalt gegen Syrien verhindern können, wird das die Atmosphäre in den internationalen Beziehungen verbessern und das gegenseitige Vertrauen stärken. Das wird unser gemeinsamer Erfolg sein und Türen für die Zusammenarbeit bei anderen kritischen Themen öffnen“, betont Russlands Präsident in seinem Kommentar. 

Gott schuf auch Amerikaner gleich

„Mit US-Präsident Barack Obama gestalten sich immer vertrauensvollere sachliche und persönliche Beziehungen. Ich weiß das zu schätzen“, heißt es in Putins Artikel in der „New York Times“ abschließend. Wie der Kreml-Chef ausführt, hat er sich mit der Fernsehansprache Obamas vom 10. September aufmerksam vertraut gemacht.

„Ich erlaube mir eine Polemik in Hinblick auf die amerikanische Einzigartigkeit“, so Putin. Die Exklusivität der eigenen Nation habe Obama in seiner Erklärung, Amerika sei dadurch einzigartig, dass sich die von den USA betriebene Politik von den anderen unterscheiden, manifestiert. 

„Es ist sehr gefährlich, Menschen dazu zu inspirieren, dass sie sich für einzigartig halten, was auch immer die Begründung dafür sein mag“, schrieb Putin. „Es gibt große und kleine Länder, reiche und arme, solche mit tiefen demokratischen Traditionen und Länder, die noch nach ihrem Weg zur Demokratie suchen. Ihre Politik unterscheidet sich auch. Wir sind alle unterschiedlich. Wenn wir aber den Herrn um Segen bitten, so dürfen wir nicht vergessen, dass Gott uns gleich geschaffen hat.“