Der Sozialstaat
READER für die (2). Klausur
Pol Gk Behn (Schj. 02/03)



1. Brüder, zur Wahrheit! - Die Situation
2. Leserbrief: Mehr Eigenverantwortung?
3. Leserbrief: Die Abwärtsspirale durchbrechen!
4. Leserbrief: Sozialsystem auf den Müll
5. Wie sozial der Staat sein muss - Blick über den Tellerrand
6. Erwerbsarbeit ist nur ein historisches Konstrukt
- Gedanken über Arbeit und Arbeitslosigkeit (!!!)


Brüder, zur Wahrheit! VON HANS D. BARBIER
Gegenwind wird der Bundeskanzler nicht nur von den Gewerkschaften und aus dem Saarland verspüren. Die Meinung, hinter dem Aktionskürzel "Zwanzigzehn" stecke nichts anderes als der unnötigerweise in Szene gesetzte Abbau des Sozialstaates, ist weit verbreitet. Und dazu haben die Politiker der Volksparteien mit Fleiß und Erfolg beigetragen. Die sich heute gegen Gerhard Schröder stellen, sind diejenigen, die über Jahre und Jahrzehnte hin mit Irrtümern des Sozialen versorgt wurden. Schröders Kritiker verteidigen das, was ihnen seinerzeit als Fortschritt gepriesen und angedient wurde: Solidarität als Anspruch auf Versorgung ohne Eigenverantwortung, Risikokalkulation und Kostenrechnung.

Die flexible Altersgrenze ohne versicherungsmathematischen Rentenabschlag ist als Ausdruck sozialstaatlicher Gesinnung von der Politik erfunden und von den Arbeitnehmern zügig in Anspruch genommen worden. Wer könnte da nicht verstehen, wenn die Arbeitnehmer es nun nicht widerspruchslos hinnehmen wollen, daß das Rentenalter angehoben werden soll? Wer mehr als fünfzig Jahre alt war, wurde von sprücheklopfenden Arbeitsministern über "Beschäftigungsbrücken" geleitet, die vom mißbrauchten Arbeitslosengeld in die vorgezogene Rente führten. Kann man sich dann wundern, daß die Leute gegen die Kürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes und gegen die Verlängerung der versicherungsrechtlichen Lebensarbeitszeit opponieren?

[...] Und auch die erstaunte Frage von Arbeitnehmern "Woher sollen denn die Arbeitsplätze kommen, wenn der Kündigungsschutz gelockert wird?" spiegelt doch nichts anderes als die dauerhaft wiederholte Behauptung der Sozialpolitiker, ein steigendes Maß an regulierendem Schutz habe keine Auswirkungen auf die Investitions- und Einstellungsentscheidungen der Unternehmen. Wer das Dickicht der Regulierungen jetzt durchlüften will, der muß sich wohl dazu bequemen, die These "Sicherheit durch Kündigungsschutz" als einen Irrtum zu erklären. Weder für Leistungskürzungen noch für das Zurückdrängen des Einflusses der Gewerkschaften wird der Kanzler werben können, solange seine Agenda den Charakter disparater Korrekturen hat. Es geht um das System und seine Machthaber. Das macht die Sache nicht leichter.

Verständnis für das Reformvorhaben kann der Kanzler nur gewinnen, wenn er zur ganzen Wahrheit vorstößt. Und die heißt: Ein Sozialstaat taugt nichts, wenn er den Jugendlichen die Berufseinstrittchancen verstellt, wenn er die Erwachsenen der Dauerarbeitslosigkeit ausliefert und wenn er den Älteren im Überfallverfahren die Rentenansprüche kürzt. Ein Sozialstaat taugt nichts, wenn er zu steigenden Kosten die Qualität der Gesundheitsleistungen verringert. Ein Sozialstaat taugt nichts, der die Menschen einem Tarifkartell ausliefert. Ein Sozialstaat taugt nichts, wenn er die Solidarität zum Objekt der Ausbeutung durch die Cleveren degradiert.

Unterhalb dieser Wahrheitsschwelle bleiben die Reformen unverständlich. Denn einen Sozialstaat, der "eigentlich" gut ist, werden die Bürger verteidigen. Warum auch nicht? Reformbereitschaft kann nur entstehen, wenn die Politik eingesteht, daß der Sozialstaat in seiner gewachsenen Form eben nicht mehr gut ist.

Der Autor ist Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.05.2003, Nr. 107 / Seite 13


Mehr Eigenverantwortung?

Nach meiner Meinung ein klares Ja. Und eine Alternative dazu gibt es nicht.
Also, wenn dies der Weg ist, unser Land vor der sich klar abzeichnenden Katastrophe zu bewahren, warum tun wir Deutsche uns dabei so schwer?
Es gibt sicherlich viele Gründe, die wohl zum einen aus unserem Nationalcharakter, zum anderen aber auch aus der Art und Weise resultieren, wie in diesem Land Politik definiert und von wem betrieben wird. Unser Staat traut uns Bürgern nichts zu und raubt uns die wirtschaftliche Basis für konsequente Eigenverantwortung. Er macht dies sicherlich nicht ganz ohne Hintergedanken, wenn er Fähigkeiten zur Eigenverantwortung durch ein System von Überversorgung, Gängelung, Beseitigung von Subsidiarität, Bewahrung von Intransparenz, Umverteilung und Abhängigmachung regelrecht wegmanipuliert. Wohl auch aus der Sorge heraus, dass ein Land mit eigenverantwortlichen, freiheitlich denkenden Bürgern nicht so leicht zu regieren ist wie ein Land von Abhängigen.

Aber es gibt auch andere Gründe: Eigenverantwortung und Liberalität hängen unmittelbar zusammen mit Fragen der Bildung, des Selbstvertrauens und des Selbstwertgefühls der Bürger. Und hier steht es (im Gegensatz zu anderen Industriestaaten, bei uns in der Tat nicht zum Besten. Auch die Tatsache, dass lediglich 5% der Deutschen (95% sind demnach fremdgesteuert und/oder für andere Ziele manipulierbar!) eine klare Zievorstellung von ihrem eigenen Leben oder gar eine Vision haben, ist für die Situation verantwortlich, dass Eigenverantwortung bei uns nicht (mehr) funktioniert.
Der Weg zu mehr Eigenverantwortung geht demnach nicht nur über Gesetze und die Sicherstellung der wirtschaftlichen Grundlagen, um diese überhaupt realisieren zu können, sondern auch und vor allen Dingen über ein grundsätzliches Umdenken in unseren Köpfen.
Das ist, zugegebenermaßen, ein langer Weg, und Unterstützung von unseren Politikern bekommen wir dabei mit Sicherheit nicht.
Mit freundlichen Grüßen
Jörg Schülke, www.projekt-neue-wege.de, faz-net 28.04.2003


Die Abwärtsspirale durchbrechen!

Die staatliche Rentenversicherung befindet sich in einer Abwärtsspirale. Der demographische Faktor und die wirtschaftliche Situation führen zu Beitragserhöhungen.

'Reformen', die in der Zukunft die Ansprüche senken, zerstören das Vertrauen der jungen Menschen in das System, denn es ist unkalkulierbar, was man bei einem Renteneintritt in 30 Jahren noch bekommt.

Folglich verstehen junge Menschen die Signale derart, daß sie möglicht aus dem System aussteigen sollten um des Geld in eigene Vorsorge zu stecken. Damit werden die Beitragszahler weniger und zusammen mit dem demographischen Faktor steigen die Beiträge und kürzen sich die Ansprüche in der Zukunft.

Viele junge Menschen empfinden das System schon lange nicht mehr als Generationengerechtigkeit sondern als Generationenbetrug.

Was muß man tun, um diese Spirale zu durchbrechen?

1.
Alle Sozialleistungen, die in der Rentenversicherung versteckt wurden müssen zum Sozialamt. Entsprechend kann der Bundeszuschuß reduziert werden. Das schafft Transparenz und Vertrauen, daß die Beiträge auch zweckgebunden verwendet werden.

2.
Die Rentenansprüche sollten in einen fixen und in einen variablen Teil aufgeteilt werden. Der variable Teil richtet sich nach dem aktuellen Beitragsaufkommen. Er sinkt in Krisenzeiten und steigt in wirtschaftlich guten Zeiten. Das beteiligt zum einen die Rentner am Erfolg der Volkswirtschaft und verhindert auf der anderen Seite, daß sich Politiker in Zeiten gut gefüllter Kassen aus der Rentenversicherung bedienen.

3.
Dem demgkraphischen Faktor ist heute schon Rechnung zu tragen, d.h. mit jedem Renteneintrittsjahrgang ist über eine Formel der Anspruch und den Kinderreichtum dieses Jahrgangs unter Berücksichtung der eigenen Kinder anzupassen.

Andreas Seidl, faz-net 06.05.2003


Sozialsystem auf den Müll

Zu Deutsche sollen später in Rente (FR S. 1 vom 25. April):

Die Überschrift "Deutsche sollen später in Rente" trifft es genauer als "Deutsche sollen länger arbeiten". Weil natürlich auch dann, genau wie heute, alle mit Ende 50, Anfang 60 von ihrem Arbeitgeber nach Hause geschickt werden. Im Unterschied zu heute soll man aber dann nur 18 Monate Arbeitslosengeld bekommen. Anschließend, bis zum Renteneintritt, gibt's dann Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau. Infolgedessen ist die Rente ab 67 in den meisten Fällen so gering, dass man wieder zum Sozialhilfeempfänger wird.

Dass dadurch kein einziger Arbeitsplatz geschaffen wird und die Binnenkaufkraft weiter sinkt, wissen der Bundeskanzler - wie heisst er doch noch gleich ... Westerschröder oder Schröderwelle, oder so ähnlich - und seine "Experten" natürlich auch. Sie sind ja schließlich keine ökonomischen Analphabeten.

Das Ganze wollte man eigentlich schon früher durchziehen. Die Arbeitgeberverbände fordern das schon lange. Aber jetzt ist die Situation günstig: Die Kassen sind leer, weil mindestens 4,6 Millionen Arbeitslose keine Beiträge zahlen, und alle plappern 24 Stunden täglich auf allen Kanälen "der Sozialstaat muss umgebaut werden". Später können wir unseren Kindern und Enkeln erzählen: Wir waren dabei im historischen Jahr 2003, als das Sozialsystem, aufgebaut nach über 100 Jahren Kampf (es klingt pathetisch, aber es gab Opfer, auch Tote!) auf den Müll geschmissen wurde.

Manfred Laus, Frankfurt a. M., Frankfurter Rundschau 200330.04., 2003


Wie sozial der Staat sein muss
Volksbegehren als Auslöser einer umfassenden Debatte über das Sozialsystem

Erhard Stackl

Der demokratische Rechtsstaat europäischer Prägung muss sozial sein, sonst hat er keine Existenzberechtigung. Seine Legitimation besteht ja darin, dass die große Mehrheit der Bürger zu ihm steht. Das tun sie nur, wenn ihre Grundbedürfnisse in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Altersversorgung gesichert sind.

Das steht in Österreich außer Streit. Bei den Initiatoren des Sozialstaats-Volksbegehrens ebenso wie bei den Regierungsparteien. ÖVP und FPÖ bekennen sich zum Sozialstaat, weswegen sie die Forderung seiner Festschreibung in der Verfassung für eine "parteipolitische Aktion" halten.

Die von SPÖ und Grünen, aber auch von Kirchenkreisen und Gewerkschaften unterstützten Volksbegehrer sehen in der schon längere Zeit, aber besonders unter Schwarz- Blau vorangetriebenen Reform weg vom umfassenden Sozialstaat dagegen einen gefährlichen "Paradigmenwechsel". Dieser vom Philosophen Thomas S. Kuhn geprägte Begriff beschreibt die Ablösung eines allgemein anerkannten Denkgebäudes durch ein neues. Aus der Sicht der Volksbegehrer vollzieht sich ein Umbau des solidarischen Sozialstaates, der möglichst vielen möglichst große Lebenschancen bieten soll, hin zum neoliberalen Wettbewerbsstaat. Mit Schlagworten wie "Kosteneffizienz" und "Wahlfreiheit" werde der Sozialabbau vorangetrieben. "Geringfügige" Beschäftigungen schafften ein neues Armutsrisiko.

Sozialstaatsreformer, besonders solche aus der Wirtschaft, wollen dagegen mit dem "Gießkannenprinzip" Schluss machen. Das bisherige Wohlfahrtssystem sei unfinanzierbar geworden. Da ist etwas dran. Wenn etwa bei den Pensionen die Zahl der Anspruchsberechtigten im Vergleich zu den Einzahlern stark steigt, dann muss das System reformiert werden, weil wachsende Staatszuschüsse auf Dauer nicht zu finanzieren sind. Derartige Entwicklungen haben etwa auch in Schweden zu Einschränkungen im großzügigen Wohlfahrtssystem geführt.

Trotzdem sei hier nochmals an die positiven gesellschaftspolitischen Aspekte der nun zum alten Eisen geworfenen "Gießkanne" erinnert. Ihr typischstes Beispiel ist das vor genau 30 Jahren eingeführte "Gratisschulbuch", das auch jenen zusteht, die sich den Kauf durchaus leisten könnten. Ärmere Schüler, die sich zuvor zerfledderte, oft veraltete Exemplare von der Schule ausborgen mussten, sind seither nicht mehr den mitleidigen Blicken der Sprösslinge wohlhabenderer Familien ausgesetzt - im Hinblick auf möglichst gleiche Lebenschancen durchaus ein Faktor. Zudem bekamen Buchhandlungen Kontakte mit Neukunden; Verlage freuten sich über ein sicheres Basisgeschäft.

Überhaupt führt das verzweigte Netz staatlich gelenkter Finanzierungen (besonders in den Bereichen Gesundheit und Infrastruktur) dazu, dass der einzelne Steuerzahler auf Anhieb gar nicht sagen kann, ob er am Ende seiner Tage "Nettozahler" oder "Nettoempfänger" gewesen sein wird. Wegen der stark gewachsenen Gruppe mittlerer Einkommensbezieher und der geringen Besteuerung von Kapitaleinkommen hat das Abgabensystem den Effekt einer Umverteilung von oben nach unten längst verloren.

Ein Wechsel von der bisherigen Pflichtversicherung zur Versicherungspflicht könnte dieses System aber zerstören. Gut verdienende Junge könnten sich wegen ihres geringeren Gesundheitsrisikos privat günstig versichern lassen; für sie stünden bestens ausgestattete Privatkliniken bereit. Dem jetzt schon unter Druck geratenen öffentlichen Gesundheitssektor würden ihre Beiträge dagegen stark abgehen.

Diese Vision erinnert an Verhältnisse in den USA und in der Dritten Welt - und sie hat auch viel mit der Globalisierung zu tun. Eben weil in vielen konkurrierenden Ländern die Arbeitskräfte ohne sozialen Schutz sind, gilt unser System nun als "zu teuer". Schon deshalb müsste die EU auf die weltweite Durchsetzung sozialer Mindeststandards drängen. Und auch darüber wäre, mit oder ohne Sozialstaats-Volksbegehren, hierzulande zu diskutieren.

Der Standard (Österreich) 30.03.02


URL: http://www.fr-aktuell.de/uebersicht/alle_dossiers/politik_inland/arbeit_2002_neue_chancen_alte_zwaenge/im_kontext/?cnt=32467
Erwerbsarbeit ist nur ein historisches Konstrukt

Tiefe Krise und neue Chancen: eine Revolution, die noch nicht abgeschlossen ist

Von Jürgen Kocka

"Auch heute gibt es, zumal weltweit, viele dringende, unerfüllte und noch mehr zu entdeckende, zu entwickelnde Bedürfnisse, deren Deckung massenhaft nützliche Arbeit erfordern würde. Unter den richtigen sozialen und institutionellen Bedingungen kann sich daraus eine neue Nachfrage nach Erwerbsarbeit ergeben. Damit entstünden neue Arbeitsplätze in großer Zahl."

Wer die Geschichte der Arbeitsgesellschaft kennt, urteilt über ihre Zukunft klarer. Worum geht es? Unter dem Eindruck hartnäckiger Arbeitslosigkeit fragt man erstens, ob der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht. Zweitens beobachtet man tiefgreifende Formveränderungen der Erwerbsarbeit im Zeitalter der Kommunikationsrevolution und der Globalisierung. Das "Normalarbeitsverhältnis" erodiert. Ist Arbeit als Lebensberuf am Ende? Was folgt auf die Erwerbsarbeit? Drittens stellt sich die Frage nach dem Sinn der Arbeit neu. Verliert sie ihren zentralen Platz in den Biographien? Hat sie schon aufgehört, die wichtigste Basis für die Konflikte und den Zusammenhalt der Gesellschaft zu sein? Entsteht ein neuer "flexibler Mensch" ohne viel Bindung durch Arbeit? Was hält moderne Gesellschaften überhaupt noch zusammen?

Fluch und Segen

Im antiken Athen wäre es sinnlos erschienen, die Handarbeit des Sklaven, das Werk des Schriftstellers und die Tätigkeit des Politikers mit ein und demselben Begriff zu belegen. In anderen Kulturen fehlt es an einem allgemeinen Arbeitsbegriff bis heute. Erst im 18. Jahrhundert setzte sich im Westen der heute selbstverständliche allgemeine Arbeitsbegriff durch, der körperliche und geistige, ungelernte und hochqualifizierte, abhängige und selbstständige, monotone und schöpferische Tätigkeiten zusammenband. Danach hat Arbeit einen Zweck außerhalb ihrer selbst: den Zweck, etwas herzustellen, zu leisten, zu erreichen; Arbeit hat etwas von Verpflichtung oder Notwendigkeit an sich, ist Erfüllung von Aufgaben, die andere stellen oder man sich selber setzt; Arbeit ist immer auch mühsam, hat Widerstand zu überwinden, erfordert Anstrengung und ein Minimum an Beharrlichkeit, über den Punkt hinaus, an dem sie aufhört, ausschließlich angenehm zu sein.

Im Großen und Ganzen ist dies eine auch heute noch akzeptable Minimalumschreibung von Arbeit im umfassenden, noch nicht auf Erwerbsarbeit verengten Sinn. Spiel, Muße, Nichtstun wären Gegenbegriffe. In der Bewertung der Arbeit hatten über die Jahrhunderte zunächst ambivalente bis negative Einschätzungen vorgeherrscht: Arbeit galt als Mühe und Last, als Notwendigkeit und Qual, auch als göttliche Strafe und Fluch. Nur allmählich gewann die andere Seite an Boden, im christlichen Diskurs und in den Bürgerstädten Alteuropas: Arbeit wurde zunehmend verstanden als göttlicher Auftrag und Segen, als Dienst und Ehre. Erst in der bürgerlichen Aufklärung des 18. Jahrhunderts und in der entstehenden Nationalökonomie setzte sich - unter den Intellektuellen - eine positive Sichtweise endgültig durch. Arbeit galt nun als Quelle des Wohlstands und der Zivilität, als Kern menschlicher Existenz und Selbstverwirklichung, als Inbegriff menschlicher Naturbeherrschung und als Basis tugendhaften Zusammenlebens.

In anderen Kulturkreisen hatte diese Glorifizierung der Arbeit keine Parallele. In deren Konsequenz erschien Arbeit bei uns als Menschenrecht. Immer wieder hat man die Realität an jener Norm gemessen und kritisiert, vor allem während der Industrialisierung und den Arbeiterbewegungen des 19. Jahrhunderts. Über ihre ökonomische Bedeutung hinaus gilt Arbeit auch heute noch als Erfüllung und Anrecht, dessen dauerhafte Verweigerung eine Gesellschaft in tiefe Krisen stürzt.

In der Realität geht Arbeit freilich niemals in solchen Diskursen auf. Arbeit war nie nur Erfüllung und Freude, sondern immer auch Mühe und Last. Je nach sozialer Position, Milieu und Geschlecht fiel das Mischungsverhältnis anders aus. Die deutsche Arbeiterbewegung hielt es gar mit dem späten Marx, für den das Reich der Freiheit und der menschlichen Selbstverwirklichung erst jenseits abhängiger Erwerbsarbeit begann. Sie kämpfte immer für mehr freie Zeit wie überhaupt die großen Utopien der letzten Jahrhunderte eher die freie Zeit als die notwendige Arbeit propagierten.

Schon Adam Smith, der große Aufwerter der Arbeit, wusste, dass menschliche Wesen in der Regel Muße der Arbeit vorziehen. Bis heute bedeutete Arbeit den Zwang zum Verzicht und die Pflicht zur Disziplin, sie strengt an und ermüdet. Nicht jede Arbeit wird Nicht-Arbeit vorgezogen. Immer noch gibt es viel mehr notwendige und nützliche Arbeit zu tun, als ausschließlich aus Neigung gesucht wird. Auch heute kann nicht auf ein klug ausgedachtes System von negativen und positiven Anreizen verzichtet werden. Dies setzt jeder radikalen Entkopplung von Einnahmen und Arbeit - à la André Gorz - klare Grenzen.

Überlegenheit der Erwerbsarbeit

Die Arbeitsgesellschaft von heute entstand im langen 19. Jahrhundert. Sie war und ist auf Erwerbsarbeit gegründet. Diese setzte sich in drei Schüben durch.

Mit der Aufhebung der feudalen und der ständischen Ordnung seit dem späten 18. Jahrhundert avancierte erstens der Kapitalismus zum allgemeinen Prinzip. Er drang tief in die Welt der Arbeit ein und prägte sie um: in Richtung marktvermittelter Erwerbsarbeit. Arbeit war früher nur zum kleinen Teil oder indirekt über Märkte geregelt. Ansonsten war sie eingebunden: im Haus das Gesinde, im korporativen Verband das zünftige Handwerk, auf den Grund- und Gutsherrschaften des Landes herrschte feudale Gebundenheit, anderswo auch persönliche Unfreiheit und Sklaverei. Diese Einbindungen zerfielen nun. Bisher eingebundene Arbeitskräfte wurden freigesetzt, traten - selbstständig oder als Lohnarbeiter - auf sich rasch ausweitenden Märkten auf. Jetzt wurde Arbeit en masse zum Gegenstand marktwirtschaftlicher Tauschvorgänge, zur Ware. Mit Industrialisierung und Verstädterung kam es zweitens seit dem mittleren 19. Jahrhundert zur Zentralisierung der Erwerbsarbeit. Zunehmend fand Arbeit in Werkstätten, Fabriken und Verwaltungen statt. Der Arbeitsplatz, an dem Erwerbsarbeit geleistet wurde, und die Sphäre des Hauses bzw. der Familie traten auseinander.


Die Familie und der Haushalt hörten weitgehend auf, Ort der Erwerbsarbeit zu sein. Die Arbeit, soweit sie Erwerbsarbeit war, wurde zu einem relativ klar ausdifferenzierten Teilsystem, das nach eigenen Regeln funktionierte: immer klarer im Sinne der Marktwirtschaft, unter der Kontrolle von Vorgesetzten, tendenziell als Betrieb. Arbeit konstituierte sich als abgrenzbarer, erfahrbarer Teilbereich, als Arbeit an und für sich.
Damit wurde die Unterscheidung zwischen "Arbeit" und "Nicht-Arbeit" zu einer weit verbreiteten Erfahrung. Mit "Arbeit" war nun zunehmend Erwerbsarbeit gemeint, vornehmlich wahrgenommen von Männern, aber nicht auf diese beschränkt. "Nicht-Arbeit" schloss wichtige, jedoch meist ungenannte Elemente von Arbeit ein, die nicht Erwerbsarbeit waren, zum Beispiel vornehmlich von Frauen wahrgenommene Arbeit im Haus und für die Familie. Eben dies prägte auch die Begriffe der offiziellen Statistik, in der sich Arbeit weitgehend zu "Erwerbsarbeit" verengte.

Im Zeitalter der Industrialisierung gewann die Arbeit an sozialer, politischer und kultureller Bedeutung. Die größte Protest- und Emanzipationsbewegung der Zeit, die Arbeiterbewegung, fußte auf abhängiger Erwerbsarbeit. Auch für die Frauenbewegung war die Erringung neuer Arbeitsmöglichkeiten zentral. Mehr und mehr verstanden sich die Menschen von ihrer Arbeit her. Arbeit wurde zum zentralen Begriff der entstehenden Sozialwissenschaft. Auch Nation und Arbeit hingen zusammen. Schließlich diente die Erwerbsarbeit seit den 1880er Jahren als Basis für den Sozialstaat. Über die Beiträge der Arbeiter und der Arbeitgeber wurde das System finanziert. Mit den Folgen davon kämpfen wir heute.

Die staatliche Kodifizierung der Erwerbsarbeit nahm drittens mit dem Ausbau des Sozialstaates zu. Nach Ort und Zeit, Bedingungen und Folgen, Ausbildung und Ruhestand wurde Erwerbsarbeit zunehmend durch Gesetze und Verordnungen geregelt, normiert und verfestigt. Erst damit kam, ebenfalls seit den 1880er Jahren, die Unterscheidung von Arbeit und Arbeitslosigkeit auf. Auch in dieser Hinsicht ist die Erwerbsarbeit, wie wir sie kennen, also ein historisches Konstrukt.

Viertens stellt sich die Frage, warum sich die Erwerbsarbeit als Norm und Normalität so eindeutig durchsetzte. Sie setzte sich durch, weil sie in Bezug auf ökonomische Effektivität überlegen war. Im Vergleich zu anderen Formen der Arbeit war Erwerbsarbeit attraktiv, weil sie mit marktmäßigen Mitteln und Anreizen funktionierte und viel Freiheit ermöglichte. Überlegen war Erwerbsarbeit aber auch unter Gesichtspunkten der Gerechtigkeit. Arbeitsbedingte Vermögens-, Status- und Machtunterschiede wurden leichter als legitim akzeptiert als solche, die von Geburt, Eroberung oder Zufall abhingen.

Schließlich: Wer die eigene Arbeitskraft und das eigene Können erfolgreich auf dem Arbeitsmarkt anbot, erfuhr jedenfalls in den zunehmend bürgerlichen Kulturen seit dem 18. Jahrhundert soziale Anerkennung, Bestätigung und Wertschätzung durch andere, die anders schwer zu finden waren. Auch das mag zur Durchsetzung der marktbezogenen Erwerbsarbeit (auch, aber nicht nur als Lohnarbeit) beigetragen haben, wie es umgekehrt die persönlichkeitsbedrohenden Konsequenzen erklärt, die aus langer Erwerbslosigkeit folgen - um 1930 wie heute.

Herausforderung Arbeitslosigkeit

Heute ist überdeutlich, wie sehr sich der Arbeitsbegriff seit dem 19. Jahrhundert eingeengt hat. Sprachlich und praktisch wird für seine erneute Ausweitung plädiert. Er soll auch nützliches Tun jenseits der Erwerbsarbeit einbeziehen, beispielsweise in Gestalt neuartiger "Bürgerarbeit" und durch Aufwertung von Haus- und Eigenarbeit. Dies verdient Unterstützung, Phantasie und Experimente. Doch sollte man dabei die Ursachen mitbedenken, die die Erwerbsarbeit historisch so überlegen gemacht haben. Sie sind nicht obsolet. Aber zwingt nicht die Massenarbeitslosigkeit zu radikal neuen Schritten? Ist nicht das herkömmliche System, das auf Erwerbsarbeit fußt, überfordert? Immerhin wollen heute sehr viel größere Teile der Bevölkerung an der Erwerbsarbeit beteiligt sein als irgendwann früher. Nie zuvor war zudem das Wegrationalisieren von Arbeitsplätzen so rapide und massiv. Und die Internationalisierung verschärft den Wettbewerb auf den Arbeitsmärkten in neuartiger Weise.

Die massive Vernichtung von Arbeitsplätzen durch technologischen Wandel unter Bedingungen der Marktkonkurrenz hat jedoch von Anfang an zur Industrialisierung dazugehört. Immer wieder kam es zu lange andauernder Unterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit. Doch immer wieder wurde die Vernichtung von alten durch die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen kompensiert. Immer wieder ging die Beschäftigungskrise in ein neues Gleichgewicht über, so prekär dieses auch blieb. Zentral war dabei die immer neue Manifestation vorher unerfüllter, kaum gekannter und neu entstehender menschlicher Bedürfnisse. Solange sie sich in Nachfrage nach Gütern und Leistungen umsetzen ließen, entstand daraus neue Arbeit im Sinn von Erwerbsarbeit.

Es ist möglich, aber nicht wahrscheinlich, dass dieser Mechanismus heute und in Zukunft nicht mehr funktioniert. Auch heute gibt es, zumal weltweit, viele dringende, unerfüllte und noch mehr zu entdeckende, zu entwickelnde Bedürfnisse, deren Deckung massenhaft nützliche Arbeit erfordern würde. Unter den richtigen sozialen und institutionellen Bedingungen kann sich daraus eine neue Nachfrage nach Erwerbsarbeit ergeben. Damit entstünden neue Arbeitsplätze in großer Zahl.


Die offene Frage ist, ob es gelingt, die sozialen und institutionellen Bedingungen herzustellen, die die Umsetzung des vorhandenden und entstehenden Bedarfs an nützlicher Arbeit in Nachfrage nach Erwerbsarbeit ermöglichen. Dem Marktmechanismus allein kann dies nicht überlassen werden.
Neben sehr viel größerer Marktflexibilität und dringend nötiger Reformen der Ausbildung gehören zu den nötigen Maßnahmen: der Umbau der sozialen Sicherungssysteme, neuartige Subventionierung geringfügig entlohnter privatwirtschaftlicher Arbeitsplätze aus öffentlichen Mitteln und mindestens der Verzicht auf die weitere Verteuerung der Erwerbsarbeit durch hohe Tarifabschlüsse. Dieser Verzicht wird ohne weitere Verschärfung der Einkommensungleichheit nur dann durchzusetzen sein, wenn die reinen Arbeitseinkommen der Lohn- und Gehaltsempfänger durch Einkommen aus der Teilhabe an Produktivvermögen in großer Breite ergänzt werden. Dies ist die große sozialpolitische Aufgabe des neuen Jahrhunderts.

Chancen und Gefahren

Es erscheint also weder wahrscheinlich noch wünschenswert, dass sich die Erwerbsarbeit auf absehbare Zukunft als Regelfall überlebt. Doch sie unterliegt tiefgreifenden Veränderungen.

Erwerbsarbeit wurde lange Zeit im Dreieck von Markt und Betrieb - Familie und Haushalt - Staat und Politik reguliert. Aber im Verhältnis von Markt und Betrieb auf der einen und Familie und Haushalt auf der anderen Seite vollziehen sich die revolutionärsten Veränderungen. Die schnell steigende Frauenerwerbsquote ist eine Folge davon. Das Verhältnis von Arbeits- und Geschlechterordnung ändert sich rasch. Eine scharfe Rollentrennung zwischen dem Mann und Vater als erwerbstätigem Familienernährer, und der Frau als Hausfrau und Mutter gab es in vorindustrieller Zeit kaum. Auch im 19. und frühen 20. Jahrhundert war sie mehr eine Sache des Bürgertums als anderer Schichten. Am weitesten scheint sich das Prinzip der "Male Breadwinner Family" zwischen 1950 und 1975 durchgesetzt zu haben. Seither erodiert es rasch. Die Berufsbiographien von Männern und Frauen werden einander ähnlicher. Dem entsprechen wichtige Änderungen im Sozial-, Arbeits-, Steuer- und Eherecht. Es handelt sich um eine Revolution, die noch nicht abgeschlossen ist.

Außerdem erodiert das Normalarbeitsverhältnis. Während 1970 die Relation zwischen vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmern einerseits und der Summe der Teil-, Kurzzeit-, sowie befristet und geringfügig Beschäftigten etwa 5:1 betrug, verschob sie sich bis 1996 auf 2:1. Das ist ein rasanter Prozess ungeplanter Umverteilung verfügbarer Erwerbsarbeit, mit Gewinnern und Verlierern. Die Elastizität der Erwerbsarbeit und die Fluidität der Arbeitsverhältnisse nehmen dabei zu, die örtliche und zeitliche Fragmentierung der Arbeitsplätze schreitet voran. Die Organisation der Unternehmen nimmt Netzwerkcharakter an, die Beschäftigten müssen einen größeren Teil des Risikos selbst übernehmen und die Bindung an den einzelnen Betrieb lockert sich. Die Flexibilitätszumutungen an die einzelnen Arbeitnehmer steigen.

Neue Formen partieller und oftmals prekärer Selbstständigkeit entstehen, statistisch sinkt der Selbstständigenanteil derzeit jedenfalls nicht. Der Arbeitsplatz verliert seine ehemals klarere Abgrenzung, löst sich bisweilen auf. Die neuen Kommunikationsmittel erlauben neue Formen der Heimarbeit. Ein neues Zeitregime entsteht in den Grauzonen zwischen Arbeits- und Freizeit, mit Teilzeit und Gleitzeit, mit neuen Freiheitschancen und Abhängigkeiten. Manche dieser Veränderungen seit den 1970er Jahren scheinen Trends umzukehren, die man seit anderthalb Jahrhunderten beobachtet. Diese Trendwende wird unterschiedlich gedeutet.

Auf der einen Seite befürchten Autoren wie Richard Sennett, dass aus der Flexibilisierung und Fragmentierung der Arbeitsverhältnisse eine bedrohliche Erosion der individuellen Identitäten und des sozialen Zusammenhalts folgt, die mit politischer Verunsicherung, Defensive und Xenophobie einhergeht. In der Tat scheint die Vergesellschaftungskraft der Arbeit in den letzten Jahrzehnten stark abgenommen zu haben. Der Niedergang der Arbeiterbewegungen legt Zeugnis davon ab.

Auf der anderen Seite bergen die tiefen Wandlungen auch neue Chancen, beispielsweise zur Verknüpfung von Erwerbsarbeit mit anderen Tätigkeiten, zur Verbindung von Arbeit und Freizeit, zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Sie enthalten neue Möglichkeiten, das Verhältnis der Geschlechter zueinander weniger ungleich und produktiver zu gestalten. Ganz offensichtlich gibt die Krise auch Raum für Innovationen.

Die massenhafte Arbeitslosigkeit scheint überwindbar. Sie ist - auch von ihren Ursachen her - ein soziales Problem. Vom "Ende der Arbeit" oder auch nur vom "Ende der Erwerbsarbeit" zu sprechen, führt in die Irre. Das Bild der "Arbeitsgesellschaft" verblasst nur langsam. Tragfähige Alternativen fehlen. Doch an tiefgreifenden Veränderungen fehlt es nicht: Die Erwerbsarbeit wird elastischer, poröser, fluider. Das Verhältnis von Arbeits- und Geschlechterordnung, von Arbeitsplatz und Familie bzw. Haushalt, von Arbeit und sonstigem Leben ordnet sich neu. Der Begriff der Arbeit erweitert sich wieder - sprachlich und praktisch: Eigenarbeit, Hausarbeit, ehrenamtliche Arbeit gewinnen an Boden, ohne doch die Erwerbsarbeit aus ihrer zentralen Rolle für die Sicherung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, für die Verteilung individueller Lebenschancen, die Gewährung sozialer Anerkennung und die Abstützung des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu verdrängen. Zukünftige Chancen und Gefahren sind erkennbar, ihr wahrscheinliches Mischungsverhältnis aber noch nicht. Die Konturen der Zukunft zeichnen sich nur verschwommen ab. Das 19. Jahrhundert ist zwar weit entfernt, doch in dieser Hinsicht gleicht unsere heutige Situation der damaligen.

Frankfurter Rundschau Erscheinungsdatum 29.11.2002