READER für die 1. Klausur Pol Gk Behn (Schj. 01/02)


Bin Laden hat kein Recht, den Heiligen Krieg auszurufen

Der Koran als Argumentationshilfe für Al Qaida

Berlin - Der Heilige Krieg gegen die USA werde fortgesetzt, hat der Sprecher der Organisation von Osama Bin Laden, Suleiman Abu Gheith, gesagt. Um die Kraft seiner Worte zu untermauern, verwendete er zwei Koranzitate. Das erste ist aus der Sure 5 "Der Tisch", Vers 51.

Militante Islamisten legen Koransprüche gern besonders eng aus und interpretieren sie selektiv, um ihren Zielen eine höhere, göttliche Legitimation zu verleihen. Das Zitat soll alle Moslems dieser Welt davor warnen, mit den "Ungläubigen", die Afghanistan angreifen, zu paktieren. Die Strafe sei der Ausschluss aus der wahren, der moslemischen Glaubensgemeinschaft. Der Koranvers in Sure 2, Vers 62 jedoch - und es gibt mehrere derartige Belege im Koran - spricht eine andere Sprache: "Diejenigen, die glauben (Moslems), und diejenigen, die dem Judentum angehören und die Christen und die Sabäer, alle die, die an Gott und den jüngsten Tag glauben und tun, was recht ist, denen steht bei ihrem Herrn ihr Lohn zu, und sie brauchen keine Angst zu haben, und sie werden (nach der Abrechnung am jüngsten Tag) nicht traurig sein."

Die Ideologen von Al Qaida unterschlagen die Tatsache, dass die "Träger der Buchreligionen", also Christen und Juden, keine Ungläubigen im islamischen Sinne sind.

Das zweite Zitat ist aus der Sure 4, "Die Frauen", Vers 84. Es soll den Ruf an alle Moslems stützen, am Heiligen Krieg gegen die USA teilzunehmen. Doch weder Abu Gheith noch Bin Laden, der gar keine religiöse Ausbildung vorzuweisen hat, ist legitimiert, den Heiligen Krieg auszurufen. Das kann nur der Kalif, der "rechtgeleitete" Nachfolger des Propheten Mohammed. Doch eine solche Institution gibt es nicht mehr, seit Mustafa Kemal "Atatürk" 1924 das Kalifat abgeschafft hat. Seitdem gibt es im sunnitischen Islam keine von allen Gläubigen anerkannte religiöse Autorität mehr. al


Bin Ladens Reden sprechen vielen Moslems aus dem Herzen

Nicht nur der Hass auf Amerika, sondern auch Massenarmut und Missstände sind Ursachen für religiösen Fanatismus - Ägypten zeigt es

Von Reinhard Baumgarten

Kairo - "Ich bin nicht tot, denn die Engel umkreisen mich. Ich werde auferstehen als ein neues Geschöpf. Heute singe ich das Lied meiner Erhabenheit." Szenen eines Prozesses im Kairoer Staatssicherheitsgericht Mitte der neunziger Jahre. Gespenstisch das Auftreten der jungen, bärtigen Männer, die, in einen Eisenkäfig gepfercht, gerade ihr Todesurteil erfahren haben. "Wir opfern unser Leben dem Islam", singen die Todeskandidaten, für die nach eigenem Bekunden alles ohne Wert ist, für die einzig und allein der Islam zählt.

Kampf gegen religiös verbrämten Terror, Krieg gegen moslemische Extremisten, Auseinandersetzungen mit Islamisten - Ägypten weiß, was das bedeutet. Seit den fünfziger Jahren kämpfen die jeweiligen Regierungen gegen extremistische Moslembrüder. Höhepunkt des islamistischen Terrors der neunziger Jahre ist das Massaker von Luxor mit 58 ermordeten Touristen. Das Blutbad vor vier Jahren läutet eine Wende ein. Denn der Schock über die grausame Tat und ihre Folgen erschüttert die ägyptische Gesellschaft bis ins Mark. Extremistengruppen wie Al Dschamaat Al Islamiya und Dschihad Islami verlieren endgültig jede Unterstützung in der Bevölkerung. Seitdem hat es keine nennenswerten Anschläge mehr gegeben.

Ägypten - so scheint es - hat den Krieg gegen die religiösen Empörer gewonnen. Doch Dia Rashwan, vom Al-Ahram-Zentrum für strategische Studien, ist skeptisch. Der Staat, sagt er, habe die Islamisten zwar militärisch besiegt, er habe viele Menschen eingesperrt, über 70 hingerichtet und halte nach wie vor Tausende ohne Gerichtsverfahren und Urteil fest. Aber die Politik der eisernen Faust ist für Rashwan zu wenig, um dem religiös begründeten Extremismus wirkungsvoll zu begegnen. "Ägypten hat keine Projekte, um die Islamisten politisch oder gesellschaftlich einzugliedern. Das heißt, die bleiben immer außen vor, sie können ihren Ärger, aber auch ihre politische Kreativität nicht kanalisieren. Und das ist der Grund dafür, warum diese Leute eine ständige Bedrohung für das politische Leben in Ägypten darstellen."

Die Wurzeln der ägyptischen Islamisten reichen zurück bis in die zwanziger Jahre. Der Lehrer Hassan el-Banna gründet 1928 in Ismailija die Moslembruderschaft. Der Islam soll seinen Beitrag zur Überwindung der britischen Kolonialherrschaft leisten. In den Augen religiöser Widerstandskämpfer sind die fremden Herren die Kreuzritter der Neuzeit, die es zu bekämpfen und zu vertreiben gilt. Der Eifer der Moslembrüder konzentriert sich darüber hinaus auf die ägyptische Gesellschaft, die mit westlichen Ideen und Werten ebenso konfrontiert wird wie mit westlichen Produkten, Techniken und Regierungsformen. Die Moslembrüder lehnen die in Intellektuellenkreisen weit verbreiteten Modernisierungstendenzen strikt ab. Ihrer Ansicht nach widersprechen sie dem Wesen des Islam und propagieren ein neues Heidentum. In einer Flugschrift aus den frühen dreißiger Jahren heißt es: "Die westliche Lebensweise, die auf praktischem und technischem Wissen beruht, auf Entdeckung, Erfindung und Überflutung des Weltmarktes mit mechanischen Produkten, hat sich als unfähig erwiesen, dem Geist der Menschen einen Strahl Licht, einen Funken Hoffnung oder ein Korn Wahrheit zu vermitteln."

Ähnlich abschätzig wie den Westen beurteilen die Islamisten später die Sowjetunion - besonders nach deren Einmarsch in Afghanistan. Deren Niederlage dort ist nicht nur von den Extremisten, sondern von allen Moslems als ein Sieg des Islam angesehen worden. Osama Bin Laden hat das unter einem bestimmten Aspekt betrachtet: Wir haben die Sowjets besiegt, also muss es auch möglich sein, die USA zu besiegen.

Warum dieser Hass auf Amerika? Die Antwort ist vielschichtig. Amerika symbolisiert als westliche Führungsmacht alles, was schon Hassan el-Banna und Sayyid Qutb, die Väter des modernen Islamismus, als verwerflich, verderbt und islamfeindlich gebrandmarkt haben. Amerika steht für die technologische und wirtschaftliche Überlegenheit des Westens. Eine Überlegenheit, die, so glauben viele Islamisten, vollkommen dem Willen Gottes widerspricht, und letztlich nur des Teufels Werk sein kann. Denn im Koran Sure 3 Vers 110 bescheinigt Gott den Moslems, "die beste Gemeinschaft unter den Menschen" hervorzubringen. Jeder Moslem ist deshalb dazu verpflichtet, für die Erweiterung des islamischen Herrschaftsbereichs einzutreten. Für die überwiegende Mehrzahl der 1,2 Milliarden Moslems hat das mit friedlichen Mitteln zu geschehen. "Dschihad", so Mohammed Tantauwi, Großscheich der Al Azhar, der ältesten Universität der Welt, "Dschihad bedeutet zuvörderst Anstrengung und hat zunächst weniger mit bewaffnetem Krieg als mit dem Kampf gegen die Feinde im Innern eines jeden einzelnen Gläubigen zu tun."

Der Koran - dieses in 114 Kapitel gegliederte Werk - kann, wie die anderen heiligen Bücher auch, auf vielerlei Art gelesen und interpretiert werden. Die sich religiös gebenden Extremisten vom Schlage Bin Ladens haben sich für die bewaffnete Konfrontation entschieden und glauben, die Legitimierung für ihr blutiges Handeln dem Koran entnehmen zu können. Ihre Terrorangriffe sehen sie als Teil eines Befreiungskampfes. "Unterdrückung ist schlimmer als Tod", heißt es in Sure 2 Vers 217. Amerika wird von den Extremisten der Unterdrückung der arabischen Welt geziehen, Israel der Unterdrückung der Palästinenser angeklagt, die mit Amerika befreundeten arabischen Regierungen werden beschuldigt, ihre eigenen Völker zu unterdrücken und die Werte des Islam zu verraten.

"Wer ist Osama Bin Laden", fragt die Stimme. Tagelang wirbt der Nachrichtensender Al Dschasira für sein Ende 1998 aufgezeichnetes Interview mit dem laut FBI gefährlichsten Mann der Welt. An drei aufeinander folgenden Tagen kurz nach den Anschlägen von Washington und New York sendet Al Dschasira das Gespräch zur besten Sendezeit. Jedermann in der arabischen Welt mit Satellitenschüssel hat ausreichend Gelegenheit, die Gedankenwelt des 44-jährigen Topterroristen Bin Laden kennen zu lernen. Viele hören dem asketisch wirkenden Mann zu, wie er in sauberem Hocharabisch mit ruhiger Stimme begründet, warum er allen Amerikanern den Tod wünscht. So spricht der Mann, dem die Ermordung von mehr als 5000 Menschen in New York und Washington zur Last gelegt wird. "Gehen die Anschläge von New York und Washington tatsächlich auf das Konto von Osama Bin Laden", sagt Saad Al Fadschih von der islamischen Reformbewegung in Saudi-Arabien, dann hat der 44-Jährige vor allem eines erreicht: "Amerikas große Aura ist in den Augen und Köpfen vieler Moslems zusammengebrochen. Wir haben im Fernsehen gesehen, wie das World Trade Center von einem Flugzeug getroffen wurde, das Bin Laden zugeschrieben wird, und zusammenstürzt. Die Bilder sind immer wiederholt worden. Es wurde wiederholt, wie Amerika mitten ins Herz gestochen worden ist."

Bin Laden und seine Helfer aus vielen arabischen Ländern kennen sich aus gemeinsamen Kriegstagen in Afghanistan. Dort lernt er Mitte der achtziger Jahre auch Aiman Al Zawahiri kennen, den Kopf der ägyptischen Terrorgruppe Dschihad Islami, den Spross einer der angesehensten Gelehrtenfamilien Ägyptens. Al Zawahiri hat nach dem Mord an Präsident Sadat drei Jahre im Gefängnis gesessen. Nach seiner Entlassung setzt sich der gelernte Chirurg aus Ägypten ab, um sich militärischen Operationen am Hindukusch zuzuwenden. Laut Muntasir Al Zayyat, dem Rechtsanwalt der Terrorgruppe Al Dschamaat Al Islamiya, war Al Zawahiri maßgeblich an der Mutation Bin Ladens vom Widerstandskämpfer zum Terroristen beteiligt.

Aiman Al Zawahiri ist es gelungen, Bin Laden zu kontrollieren. Damals war Osama Bin Laden nur ein reicher Saudi-Araber im Dschihad - im Heiligen Krieg gegen die kommunistischen, atheistischen Russen. Ein reicher, gläubiger Saudi-Araber ohne politische Richtung. Aiman Al Zawahiri hat ihm die Ideologie des Dschihad vermittelt und ihn davon überzeugt. Er hat Getreue des ägyptischen Dschihad um Bin Laden gruppiert, damit sie ihm beistehen. Al Zawahiri hat eine enge Beziehung zu Bin Laden. Al Zawahiri wird oft als Bin Ladens Stellvertreter bezeichnet, als zweiter Mann des islamistischen Terrornetzwerks Al Qaida. Muntasir Al Zayyat, ein interner Kenner islamistischer Strukturen und Denkweisen, ist aber davon überzeugt, dass der Chef der ägyptischen Terrorgruppe Dschihad Islami mehr ist als das: Al Zawahiri ist Bin Ladens Gehirn.

Die Beziehung zwischen Osama Bin Laden und Aiman Al Zawahiri wandelte und entwickelte sich von Zusammenarbeit und Freundschaft zu einer Allianz. Im Februar 1998 haben sie ein Abkommen über die Gründung der Internationalen Islamischen Front zur Bekämpfung von Juden und Kreuzrittern unterzeichnet. Die Dschamaat Al Islamiya war gegen diese Allianz, damals wollte sie keine Feindschaft mit den USA, und ihr Anstand erlaubte ihr nicht, amerikanische Zivilisten zu töten.

Wenn Bin Laden über die Besetzung arabischer Gebiete spricht, über die Besetzung der heiligen Stätten des Islam - angefangen mit der Al-Aksa-Moschee in Jerusalem, trifft er einen zentralen Nerv vieler Moslems. Viele Menschen im Nahen Osten haben das Gefühl, ein Spielball westlicher Politik zu sein. Sie empfinden die amerikanische Nahost-Politik als einseitig. Bin Laden versucht sein blutiges Handwerk als edlen Kampf für die Rechte des Islam erscheinen zu lassen, er möchte als islamischer Robin Hood gelten, der sich selbstlos mit dem "Sheriff von Washington" anlegt.

Bin Laden ist gefährlich, nicht nur weil er ruchlose Mörder befehligt. Bin Laden ist auch gefährlich, weil seine im Grunde unreflektierten Gedanken bei vielen Menschen im Nahen Osten einen Widerhall finden, der noch sehr gefährliche Züge annehmen kann. Beispiel Ägypten, das mit seinen immensen sozialen Problemen, seinen vielen arbeitslosen Hochschulabsolventen und der ständig größer werden Kluft zwischen Arm und Reich einen idealen Nährboden für religiös verbrämten Extremismus bietet.

Manshiett Nasser ist ein Slumgebiet mitten in Kairo. Pro Quadratkilometer leben in diesem so genannten informellen Wohngebiet mehr als 100 000 Menschen unter für Europäer kaum vorstellbaren Bedingungen. "Informelles Gebiet bedeutet nicht notwendigerweise Armut", sagt Azza Moussa von der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit. Informelles Gebiet bedeutet das totale Fehlen von Planung, es bedeutet enge Straßen, kein Zugang von außen, fehlende Infrastruktur, Mangel an Schulen, Mangel an Gesundheitsdiensten, es bedeutet Krach, Verschmutzung, großes Durcheinander. Laut jüngsten Erhebungen leben bis zu 60 Prozent der ägyptischen Bevölkerung in so genannten informellen Gebieten.

Die Bevölkerungszahl Ägyptens hat sich binnen 100 Jahren mehr als verzehnfacht. Über 30 Millionen Ägypter leben heute in einem stadtplanerischen Albtraum. Dort ticken die sozialen Zeitbomben, die dem Land am Nil in der Zukunft zu schaffen machen werden. Seit 1952 hat sich die Regierung hauptsächlich darauf konzentriert, an der Macht zu bleiben. Alles, was an Gesetzen auf den Weg gebracht worden ist, wurde gemacht, um die Regierung an der Macht zu halten. Wichtige Gesetze wurden nicht beschlossen. Auch die politischen Verhältnisse in Ägypten können angesichts der vielen wirtschaftlichen und sozialen Probleme nicht widerspruchslos bleiben. Politik gestalten kann aber nur, wer sich der den Staat und das Parlament dominierenden Nationaldemokratischen Partei anschließt. Um dort Karriere zu machen, sind Willfährigkeit und gute Beziehungen besser als das Streben nach Veränderung.

Fühlen sich Teile der Gesellschaft von politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen und wirtschaftlich benachteiligt, dann suchen sie ihr Heil in außerparlamentarischen Formen. Schlimmstenfalls flammt politisch oder religiös begründeter Extremismus auf. Im südlichen Nachbarland Sudan hat sich 1989 gar eine islamistische Junta an die Macht geputscht, die das Land während des vergangenen Jahrzehnts zeitweise zu einem sicheren Hafen für religiös verbrämte Terroristen gemacht hat. Die Gefahr droht Ägypten nicht. Ähnlich wie in der Türkei ist die Armee der Garant für die politische Nähe zum Westen. Genau diese Trennung wollen islamistische Gruppen und Parteien abschaffen. "Der Islam ist Staat und Religion in einem", lautet ihre Parole. Die dem Westen entlehnten säkularen Regierungsformen widersprechen angeblich dem Willen Gottes und müssen deshalb bekämpft werden.

Der Kampf dafür wird nicht mehr mit der Waffe ausgefochten, sondern er findet auf vielen Ebenen statt. Viele Islamisten haben sich in den achtziger und neunziger Jahren auf ihren Marsch durch die Institutionen gemacht. Sie dominieren zahlreiche Berufsstände, sie betreiben gutgehende Kanzleien oder Unternehmen, sie treiben Handel und unterrichten Kinder und Studenten. Die Herrscher der arabischen Welt, sagt Muntasir Al Zayyat, Rechtsanwalt der Islamistengruppe Al Dschamaat Al Islamiya, leiden allesamt unter dem Algeriensyndrom. Das Algeriensyndrom ist die in der arabischen Welt weit verbreitete Angst davor, dass eine von Korruption und Vetternwirtschaft geplagte Wählerschaft den Versprechungen islamistischer Parteien mehr Stimmen schenkt, als den westlichen Ideen nacheifernden Regierungsparteien.

"Bis heute", sagt Dia Rashwan vom Al-Ahram-Zentrum für Strategische Studien, "wird die islamistische Gefahr als Vorwand für die demokratische Stagnation in Ägypten ins Feld geführt." Der Wissenschaftler befürchtet, dass das noch eine ganze Weile so bleiben wird. Die Folgen dieser anhaltenden politischen Stagnation sind nicht abzuschätzen. Zumal der Krieg gegen religiös verbrämten Terrorismus gegenwärtig alle Aufmerksamkeit beansprucht. Die ungeheure Härte im Kampf gegen die islamistischen Aufrührer während der neunziger Jahre kann von der ägyptischen Führung im Nachhinein widerspruchslos gerechtfertigt werden. In Washington, London oder Berlin nimmt heute keiner mehr die Klagen von Menschenrechtsorganisationen wahr, die über Massenverhaftungen, unfaire Prozesse und Folter in ägyptischen Gefängnissen zu berichten wissen. Das Projekt Demokratisches Arabien ist unter den Trümmern des World Trade Center in New York begraben worden.

Der Autor arbeitet als ARD-Hörfunk-Korrespondent in Kairo.


Kinder von Mohammed und Coca-Cola

Der neue Terror ist eine Elitebewegung, geboren aus den Gegensätzen der saudi-arabischen Gesellschaft

Von Nikolaus Nowak

Zu den Erkenntnissen aus den Terroranschlägen vom 11. September zählt, dass seine Autoren ein völlig anderes Täterprofil haben als arabische Attentäter oder Dritte-Welt-Guerilleros bisher. Alle hatten ein Leben im Westen hinter sich, hatten Jahre an Hochschulen verbracht, verfügten über Fremdsprachenkenntnisse und finanzielle Mittel, konnten auf Grund ihrer Herkunft und Laufbahn ein Leben in Freiheit und Wohlstand erwarten. Anders als Arafats Al-Fatah-Krieger der siebziger Jahre oder die heutigen Selbstmordbomber der Hamas waren die Massenmörder von New York und Washington keine Sprösslinge aus libanesischen Palästinenserlagern, keine Kinder der Intifada oder von Arbeitslosen aus dem Westjordanland.

Der neue islamische Terrorismus ist vielmehr eine Elitebewegung, und seine Heimat liegt weder in den Bergen des Hindukusch noch in den Elendsvierteln von Kairo oder in den Ebenen von Khoramshar, wo Ayatollah Khomeini einst iranische Freiwillige mit dem Versprechen auf das Paradies in irakische Minenfelder hetzte. Sondern in einem der reichsten Länder der Welt, das binnen zwei Generationen vom Nomadengebiet zur Industrie- und regionalen Hegemonialmacht wurde: Saudi-Arabien. Mindestens neun der 19 Attentäter vom 11. September stammten aus dem Königreich. Osama Bin Laden selbst stammt aus einer der steinreichen und mächtigen Familien dieses Landes.

So scheint der Ursprung dieses neuen Terrorismus nicht im sozialen Aufbegehren oder im Kampf gegen die westliche Wirtschaftsvormacht zu liegen. Sondern vielmehr in der Unvereinbarkeit von technischer Moderne und gesellschaftlichem Mittelalter, von Massenmedien und Alkoholverbot, von Internet und Steinigung. Die Unterhaltungsgesellschaft fordert offenbar doch ein liberales, mit der rigiden Koranauslegung unvereinbares Menschenbild, und der Kampf der Kulturen vollzieht sich nicht zwischen New York und Mekka, zwischen Wall Street und Gaza-Streifen, sondern innerhalb der reichen arabischen Gesellschaften selbst. So ist es ein Trugschluss, zu glauben, was fundamentalistische Vordenker wie der marokkanische Scheich Yassine immer wieder betonen: Westliche Technik und Scharia seien kein Widerspruch, es komme nur darauf an, die Technik im Sinne des Korans einzusetzen. Gerade Saudi-Arabien, das als Land der heiligen Städte Mekka und Medina eine besonders puritanische, den Taliban verwandte Koranauslegung und Rechtsprechung pflegt, befindet sich in einer ständigen Deutungsnot, wie die Moderne mit den Lehren des religiösen Staatsvordenkers Abdel Wahab, wie eine Industriegesellschaft mit dem nomadischen Feudalsystem zu vereinen sei.

Einige Beispiele: Parallel zum Bau moderner Universitäten in den achtziger Jahren wurde diskutiert, ob weibliche Studenten, die mit nicht verwandten Männern nicht in einem Raum sein dürfen, Lehrveranstaltungen hinter einer Trennwand oder nur über Bildschirm verfolgen sollten. Bei der Massenverbreitung des Fernsehens zerbrachen sich Expertengremien den Kopf, wie visuelle Unterhaltung in einem Land zu machen sei, in dem Fenster nicht zuletzt deshalb Sichtblenden haben, weil sich der Gläubige auf spirituelle Inhalte konzentrieren und nicht an Abschweifendem delektieren soll. Im Fußballstadion von Riad wurde moniert, dass bei den Sitzen Kreuzschrauben verwendet wurden - ein verbotenes Symbol. Einen 50-Francs-Schein mit der barbusigen Marianne würde keine Bank einwechseln. Kaum überraschend also, dass die Ankunft der US-Einheiten gegen Saddam Hussein 1990 Riad in argen Rechtfertigungsdruck brachte, zumal mit den Marines auch amerikanische Konsumgewohnheiten und Frauen - die dort nicht einmal Autos lenken dürfen - an der Waffe eintrafen.

Schon vor dem Golfkrieg hatten islamischen Nachbarn versucht, die Saudis ob ihrer Petrodollars der Dekadenz zu zeihen. Iranische Pilger lösten in Mekka eine gezielte Massenpanik aus und veranlassten die überforderten Polizisten zu Schüssen nicht nur in die Luft, was das Herrscherhaus Al Saud als inkompetent und unwürdig, die heiligen Stätten zu hüten, erscheinen lassen sollte. Dass auch manche Saudis dieser Meinung waren und in der Ankunft der Amerikaner eine Entweihung Mekkas sahen, beweist die Hinwendung Bin Ladens zum Terror, den er zunächst auch gegen die eigene Obrigkeit richtete.

Dabei war der heute meistgesuchte Mann der Welt selbst ein Snob gewesen, hatte seine jungen Jahre in mediterranen Yachthäfen und auf lichterbestandenen Boulevards verbracht. Berühmt geworden ist das Bild Bin Ladens als Halbwüchsiger mit seinen vielen Geschwistern in Marbella. Noch heute reist König Faht in das spanische Luxusbad ebenso wie nach Genf - und mit ihm eine Entourage, die abendländische Freizügigkeit zu schätzen weiß. In den siebziger Jahren soll sich Bin Laden im Libanon aufgehalten haben, jener Perle des Ostens, wo neue Filme zu sehen waren, bevor sie die Champs-Elysées erreichten und wo das Casino du Liban legendäre Varieté-Shows inszenierte. An diesen Schnittstellen zwischen Orient und Okzident, Savoir-vivre und Tausendundeine Nacht zerbrach die islamische Moderne, explodierte das Nebeneinander von abendländischer Konsumwelt und rückwärtsgewandtem Islam. Der Terror-Dschihad saudi-arabischer Provenienz ist in vieler Hinsicht eine Bewegung, die im Westen jene Ziele treffen will, die sie als innere Bedrohung ihrer eigenen reaktionären, sektiererischen Herrschaft empfindet.


USA setzen offenbar nicht mehr auf die Nordallianz

Pakistan gewinnt Einfluss. US-Außenminister Colin besucht Islamabad

Von Boris Kalnoky

Islamabad - Viel hat sich verändert, seit Vertreter der Nordallianz und der exilierte afghanische König Zahir Schah in Rom am 1. Oktober entschieden, binnen zwei Wochen einen "Obersten Rat" von 120 Delegierten einzuberufen. Dieser solle dann mit der Bildung einer Übergangsregierung für Afghanistan beginnen. Obwohl diese selbst gesetzte Frist ablief, ist dies heute in weite Ferne gerückt.

Damals war noch davon die Rede, die USA würden die Nordallianz militärisch unterstützen, ein Vorstoß nach Kabul sei in der Planung. Jetzt hat die Führung der Nordallianz offiziell erklärt, von einem Einrücken in die Hauptstadt absehen zu wollen, bis eine Übergangsregierung "auf breiter Basis" gebildet sei. Bei dieser Regierungsbildung soll sie selbst offenbar eine deutlich geringere Rolle spielen als zunächst geplant. Und entgegen allen ihren Hoffnungen hat die Nordallianz bislang weder amerikanische Waffen noch Luftunterstützung erhalten.

Die USA haben indes eingesehen, dass eine Bevorzugung der Nordallianz, also der tadschikischen und usbekischen Minderheiten Afghanistans, nach einem Ende des Taliban-Regimes fast zwangsläufig zu einem neuen Krieg der nördlichen Volksgruppen gegen das Mehrheitsvolk der Paschtunen führen würde. Die Taliban sind Paschtunen, und auch in Pakistan leben Millionen ihrer Stammesbrüder. Pakistan ist auf eine "freundliche Regierung" in Afghanistan angewiesen. Unter anderem ist die Grenze zwischen beiden Ländern nie zweifelsfrei festgelegt worden.

Offenbar hat es diesbezüglich eine Einigung mit den USA gegeben, die auf Pakistan als Bündnispartner mehr angewiesen sind als auf die Nordallianz. Ohnehin können nur Pakistan und die Stammesführer der Paschtunen das Taliban-Regime von innen zum Zusammenbruch bringen. Dies war vermutlich Thema des Besuches von US-Außenminister Colin Powell am Montag.

Innerhalb von fünf Tagen soll in der Grenzstadt Peshawar das Fundament für eine neue afghanische Regierung gelegt werden. 1000 Delegierte werden erwartet - Stammesführer, Geistliche, Milizenführer, Frauenorganisationen. König Zahir Schah ist eingeladen und hat eine hochrangige Delegation nach Pakistan geschickt.

In den nächsten Tagen will jener Mann nach Rom reisen, der als Initiator der Versammlung in Erscheinung tritt: Pir Sayed Ahmad Gailani, ein Verwandter des Königs und früherer Kommandeur der weit gehend säkularen, prowestlichen und königstreuen Mahaz-Miliz. Washington hatte ihn im Kampf gegen die sowjetischen Besatzer stiefmütterlich behandelt, weil man sich ausrechnete, dass islamische Fanatiker besser gegen die Sowjets kämpfen würden.

Gailani, der von Pakistans Behörden lange geknebelt wurde, weil er gegen die Taliban war, durfte jetzt eine Pressekonferenz abhalten. Er forderte "alle Afghanen" auf, "wer immer und wo immer sie auch sein mögen, unsere Einladung anzunehmen und hier in Peshawar zusammenzukommen". Gailani hat eine Koalition namens Versammlung für Frieden und Einheit in Afghanistan gebildet. Auch die Nordallianz ist nach Peshawar eingeladen. Der international noch als Afghanistans Staatschef anerkannte Burhanuddin Rabbani hat sich Gailani angeschlossen, ebenso der von den Amerikanern bevorzugte Milizenführer Abdul Haq. Auch für gemäßigte Fraktionen der Taliban sieht Gailani einen Platz in einer Regierung.

Gailani versichert der Regierung in Islamabad öffentlich, sie werde in ihm und seinen Leuten immer einen "freundlichen Nachbarn" haben. Kein Wunder, dass manche Beobachter ihn bereits als neuen afghanischen Präsidenten von Pakistans und der Staatengemeinschaft Gnaden sehen.

Gailanis Gruppe ist nicht die einzige, die sich, offenbar mit Duldung und Ermutigung der pakistanischen Regierung, in Peshawar bemerkbar macht. Die andere ist die Nationale Solidaritätsbewegung für Afghanistan. Sie wird von niemand anderem als Ahmad Gailanis Bruder Ishok Gailani geführt, ist weniger königsfreundlich und weniger konziliant der Nordallianz gegenüber.

Unterdessen ist es vor dem Besuch von Powell in Pakistan erneut zu Ausschreitungen radikaler Moslems gekommen. In der Hafenstadt Karachi verletzten Sicherheitskräfte drei Menschen mit Schüssen, als antiamerikanische Demonstranten einen Polizeiposten angriffen. In der vorherigen Nacht waren dort zwei Polizisten erschossen worden.


Wo sind die Kriegsziele?

Der größte Nutzen des derzeitigen Feldzugs in Afghanistan könnte der einer starken Warnung sein an diejenigen, die weiterhin mit dem Feuer spielen - Gastkommentar

Von Walter Laqueur

In Washington gibt es im Groben zwei grundsätzliche Vorstellungen davon, wie die Kampagne in Afghanistan durchzuführen ist und zu welchem Zweck. Beide Seiten stimmen darin überein, dass etwas gegen Bin Laden und seine Beschützer, die Taliban, unternommen werden muss. Es ist unerträglich, sich mit einem politischen Regime abzufinden, das terroristischen Banden offen eine sichere Zuflucht bietet.

Die konventionelle und vorherrschende Denkschule argumentiert im Sinne einer lang ausgedehnten Kampagne. Die Kritiker auf der anderen Seite stimmen dem pakistanischen Präsidenten darin zu, dass sie kurz und hart sein sollte, und das aus einer Vielzahl von Gründen. Es gibt in Afghanistan nur wenige Ziele, die man aus der Luft angreifen kann. Die Führer der Taliban verstecken sich hinter den Frauen von Kandahar, für die sie sonst nur wenig Verwendung haben. Sie zu treffen würde Verluste unter Zivilisten bedeuten, und das will niemand.

Ein groß angelegter Bodenangriff ist auch nicht viel versprechend, es sei denn, er wird von der Nordallianz durchgeführt. Aber die Nordallianz ist schwach und innerlich gespalten. Militärische Planer in Washington erinnern sich an den unglücklichen Kampf von Mogadischu in Somalia von 1995, als General Mohammed Aidid, einer der blutrünstigeren einheimischen Kriegsherren, sich für mehrere Monate vor den Vereinten Nationen versteckte und am Ende eher zufällig geschlagen wurde (sechs Jahre später ist der Kampf von Mogadischu noch immer nicht vorbei . . .).

Das Gelände in Afghanistan ist wesentlich geeigneter, um sich zu verstecken als Somalia, und Bin Laden wird nur gefangen werden, wenn die Alliierten wesentlich bessere Informationsdienste haben als in der Vergangenheit oder wenn er von einem seiner Anhänger verraten wird. Was, wenn Bin Laden gefangen und seine terroristische Organisation zerstört wird? Man kann mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass zumindest einige der Mitglieder von Al Qaida nach Pakistan oder anderswo evakuiert worden sind. Bin Laden, schon jetzt ein Held für radikale Islamisten, würde zu einem noch größeren Helden werden, einem Helden, der Amerika derart viel Schaden zugefügt hat und nur geschlagen werden konnte mit der überwältigenden Stärke von vielen ungläubigen Staaten. Wenn er für längere Zeit erfolgreich Amerika und seinen Verbündeten entkommen kann, wird er sogar noch mehr Bewunderer haben und zu einem noch größeren Helden werden.

Allen Beweisen nach sind die Taliban in Afghanistan selbst höchst unbeliebt. Aber Amerika hat bisher keinerlei Anstrengung unternommen, politische und psychologische Kriegsführung einzusetzen, um beispielsweise die Soldaten der Taliban zum Überlaufen aufzurufen und die Zivilbevölkerung zu ermuntern, das derzeitige Regime aktiv oder passiv zu sabotieren. Die Kritiker haben von Anfang an behauptet, dass ein Krieg gegen den Terrorismus nicht vom Militär geführt werden muss, aber bisher scheint die Initiative beinahe vollständig in militärischen Händen gelegen zu haben.

In der Zwischenzeit wird das arme Afghanistan, verwüstet zunächst von den Russen und dann von einheimischen Kriegsherren, die den Großteil der Mittelschicht und Intelligenz umgebracht oder vertrieben haben, noch mehr leiden müssen. Aber was wird geschehen, wenn der Krieg vorüber ist? Vielleicht gibt es eine breite Koalition unter dem ehemaligen König Zahir oder unter Professor Rabani, der theoretisch noch immer Präsident ist. Vielleicht wird ein neues Afghanistan oder Paschtunistan entstehen, vielleicht eher zwei Staaten als einer mit neuen Grenzen. Es gibt die Gefahr von anhaltendem politischen Chaos, die vielleicht berechtigterweise nicht zu ernst genommen wird, denn kein Chaos hält ewig an. In jedem Fall wäre Chaos wahrscheinlich besser als die Herrschaft der Taliban. Einen Krieg zu beenden ist gewöhnlich schwieriger, als einen zu beginnen, und es ist zweifelhaft, ob darüber bisher viel nachgedacht worden ist.

Die andere Denkart glaubt an die Weisheit eines alten englischen Sprichwortes: Warum den Affen ködern, wenn der Drehorgelspieler in der Nähe ist? Wenn man das in die Sprache der Politik überträgt, heißt es, dass Bin Laden letzten Endes nur ein kleiner Fisch ist, nicht ein Feind von gigantischem Ausmaß. Es bedeutet außerdem, dass die wirkliche Gefahr bei zukünftigen Terroranschlägen liegt, möglicherweise mit Mitteln der Massenvernichtung, und dass die Kampagne gegen den Terrorismus nicht in Afghanistan gewonnen werden kann. Um bedeutende Fortschritte zu machen, müsste der Irak effektiv von Giftgas, biologischen Kampfmitteln und anderen Massenvernichtungswaffen entwaffnet werden. Saudi-Arabien unterdrückt zwar Unruhen im eigenen Land, hat aber den Terrorismus exportiert - durch die Investition von gewaltigen Geldsummen für die Einrichtung von Rekrutierungslagern für angehende Terroristen in vielen Ländern und für direkte Zuwendungen an solche Gruppen.

Wenn man es aus dieser Perspektive betrachtet, ist der zweite Schritt der Kampagne gegen den Terrorismus weit wichtiger als der erste, der sich jetzt in Afghanistan vollzieht. Aber hat Washington den Mumm für eine direkte Konfrontation mit Bagdad und Riad? Wahrscheinlich zurzeit nicht (und noch weniger seine Alliierten), aber die Stimmung könnte sich nach dem nächsten Anschlag ändern, besonders wenn er noch größere, sogar noch verheerendere Ausmaße annimmt. So gesehen könnte der größte Nutzen des derzeitigen Feldzugs in Afghanistan der einer starken Warnung sein an diejenigen, die weiterhin mit dem Feuer spielen. Unglücklicherweise ist es überhaupt nicht sicher, ob das ausreichen wird.

Walter Laqueur, geb. in Breslau, ist Historiker und Publizist. Lange Jahre war er Professor an der Georgetown University in Washington und Direktor der Londoner „Wiener Library“.


Wie die Welt in zehn Jahren aussieht  Weitere Artikel

Die Zukunftsforschung äußert sich zum 11. September. Eine prognostische Übung

Von Matthias Horx

Niemand kann die Wirklichkeit tatsächlich voraussagen. Auch Nostradamus nicht. Diese Erkenntnis führte in den sechziger Jahren, den Pionierzeiten der modernen Trend- und Zukunftsforschung, zur Szenario-Technik. Große, globale Unternehmen wie Shell, aber auch Politik und Militär arbeiten seitdem immer wieder mit dieser Variante der Prognostik, die die verschiedenen denkbaren Zukünfte zu einem "Plausibilitätsspektrum" aufschlüsselt. Nicht mehr eine einzige, determinierte Zukunftsvision wird damit als Grundlage für strategische Entscheidungen genommen. Entwickelt wird vielmehr eine komplexe, nach Wahrscheinlichkeiten aufgeschlüsselte Weitwinkeloptik, die der Komplexität von Zukunftsentwicklungen gerechter wird. Was läge näher, als die Szenario-Technik auf die New Yorker Terroranschläge und ihre mittelfristigen Folgen anzuwenden? Das Zukunftsinstitut in Wien hat ein klassisches Vierer-Szenario entwickelt, dessen Zeithorizont sich auf die nächsten zehn Jahre, also bis etwa ins Jahr 2010 erstreckt. Das Szenario ist auf einem simplen Zweiachsenschema aufgebaut und vergröbert deshalb notwendigerweise, indem es die kommenden Geschehnisse auf zwei Ereigniskanäle konzentriert. Dies sind a) die Anzahl und Heftigkeit der kommenden Terroranschläge und b) die Konsistenz der soeben geschmiedeten globalen Allianz gegen den Terror. Beide Faktoren, so die Grundannahme, entscheiden im Zusammenspiel über das Schicksal der Globalisierung und die Perspektiven der Weltwirtschaft.

Szenario 1:  Weitere Artikel

Djihad Age - das Zeitalter des weltweiten Niedergangs

Kampf der Kulturen
Foto: dpa

Dieses Szenario geht von einer universellen, schleichenden Eskalation aus. In den nächsten Monaten kommt es zum entschlossenen Durchgreifen der Amerikaner in mehreren Ländern. Militärische Engagements in Afghanistan, im Irak und womöglich im Libanon und Palästina führen zu Reaktionen der Terrororganisationen, die polizeilich nicht verhindert werden können. Selbstmordattentate und Kamikazeterror eskalieren auf eine neue Stufe; biologische und chemische Waffen werden eingesetzt, Menschenmassen und öffentliche Räume in allen westlichen Ländern werden unsicher. Truppen des Westens geraten in kriegerische Auseinandersetzungen, die zur Chronifizierung neigen und Tausende von toten Soldaten und Opfer bei der Zivilbevölkerung fordern. Europa wird auch militärisch direkt in den Konflikt hineingezogen. Die weltweite Anti-Terror-Koalition hält nicht. Mehrere europäische Länder scheren nach Terrorattentaten auf eigenem Boden und antiamerikanischen Massendemonstrationen aus der Allianz aus. Die EU destabilisiert sich, mehrere Abkommen (z.B. Schengen) werden gekündigt oder widerrufen. In der globalen Wirtschaft beginnt, initiiert durch den Zusammenbruch des Reiseverkehrs und die Militarisierung des öffentlichen Lebens, eine lange Abwärtsspirale. Rezession wird ­ in Wellen der Panik gesteigert ­ zur Depression, der Dax steht im nächsten Jahr unter 1000 Punkten. Handel und Transportunternehmen, aber auch viele globale Konzerne gehen reihenweise in Konkurs.


Szenario 2:  Weitere Artikel

Globalisierung Plus -­ der Planet wächst durch die Krise zusammen

Globalisierung des Rechts
Foto: Ullstein
Die USA führen einen strategisch klugen und auf Dauer vermittelbaren Feldzug gegen den Terror: In ihm dominieren gezielte polizeiliche Aktionen, Geheimdienstoperationen und begrenzte Interventionen, die diplomatisch und politisch abgesichert und sorgfältig mit Hilfe der Medien vermittelt werden. Trotz einiger verzweifelter Terroranschläge gelingt es, die Terrornetze langsam zu zerschlagen und das Problem des islamischen Fundamentalismus in die Isolation zu treiben. Der Nahostkonflikt endet in einem Friedensschluss zwischen Israel und Palästina. Im Iran gewinnen die Reformkräfte, in den meisten arabischen Ländern kommt es zu Demokratisierungsprozessen.

Wirtschaftlich wird es auch in diesem Szenario Belastungen geben: Eine Sondersteuer für den Aufbau der armen islamischen Länder wird in vielen westlichen Ländern nötig, da dem Terrorismus der Nährboden der Verarmung entzogen werden soll und Länder wie Pakistan und das von den Taliban befreite Afghanistan einen neuen Marshallplan nötig machen. Doch die Krise führt ab 2003 in einen weltweiten Aufschwung, in dem auch die arabischen Schwellenländer partizipieren, mit enormen Wachstumsraten der Weltwirtschaft.

Das Trauma des Terrors führt auf diese Weise zu einem neuen Weltbewusstsein. One World-Ethik setzt sich durch, Toleranz und friedliches Miteinander haben im Jahr 2010 ein großes Stück Terrain erobert. Gestützt von den UN-Institutionen entsteht eine Weltpolizei, die eine gemeinsame Menschenrechtsethik nicht nur einfordert, sondern zunehmend auch garantieren kann. Die wesentlichen ethnischen Konflikte auf der Welt sind befriedet oder werden von einer sensibilisierten Weltöffentlichkeit intensiv wahrgenommen.


Szenario 3:  Weitere Artikel

Die Große Separation ­- der Zerfall der Welt in Wohlstandsinseln

Verstärkte Gegensätze zwischen Arm und Reich
Foto: DW
Hier siegen jene Kräfte mittelfristig, die auf eine Renationalisierung der Welt setzen. Symbolisch hat der Terror damit die Ära der Globalisierung beendet. Nach weiteren Terrorattentaten mit vielen Toten auf amerikanischem Boden (oder an amerikanischen Staatsbürgern verübt) schlagen die USA hart und ohne Rücksicht auf Zivilbevölkerung und öffentliche Meinung in Europa zurück. Afghanistan, der Irak, Libyen, Syrien, der Libanon etc. werden bombardiert. Europa distanziert sich danach langsam von den USA und deren (ruinöser) kriegerischen Verwicklungen in vielen Ländern. Während die USA danach in eine lang andauernde Rezession schlittern, weichen die Investoren zunehmend auf das weniger bedrohte Europa und Fernasien aus. Dies führt dort zu kräftigem Wachstum und einer Art "Kapitalsog". Das aufsteigende China öffnet seine Grenzen für die globalen Kapitalströme und übernimmt bis 2010 die Rolle der USA als Weltmacht.

Kulturell ähnelt die Welt des Jahres 2010 den siebziger Jahren, den Zeiten des amerikanischen Vietnam-Engagements: Der internationale Flugverkehr hat sich halbiert, der internationale Handel wird von Fernostländern dominiert. Den Wohlstandsinseln, die sich in den vom Terror verschonten Ländern (Schweiz, Skandinavien, Japan und China, Osteuropa, Südamerika) gebildet haben, stehen ein deklassiertes Amerika und eine größere Gruppe von Krieg und Dschihad zerstörten Agonie-Ländern gegenüber. Die arabische Welt wird zur chronischen Bürgerkriegszone, Indien und Pakistan fallen ins Chaos. Israel kämpft dauerhaft an allen Fronten. Es wird zur lokalen Ordnungsmacht und zum letzten Brückenkopf der Amerikaner.


Szenario 4:  Weitere Artikel

Security Age ­- das Hochsicherheitszeitalter

Sicherheit über alles
Foto: Ullstein
Dieses Szenario prognostiziert eine Mischung aus dem positiven politischen und dem negativ-militärischen Plot: Es kommt in den nächsten Jahren immer wieder zu schweren Terrorattacken in den westlichen Metropolen. Die USA und ihre Verbündeten verwickeln sich in lang anhaltende militärische Auseinandersetzungen, die keine wirklichen Resultate bringen. Die weltweite Anti-Terror-Koalition hält jedoch, so dass die internationale Lage nicht völlig destabilisiert wird. China und Russland entwickeln mit den USA gemeinsam eine globale Geheimpolizei, die radikal islamistischen Staaten bleiben isoliert.

Die Reaktion der Menschen und der Märkte ist nach ein, zwei Jahren Terror von Apathie und Gewöhnung geprägt ­ die Erregungskurve flacht ab, die Börsenkurse steigen moderat wieder an. In den individualistischen Kulturen des Westens und des Nordens dominiert schließlich ein teilweise dekadenter Nach mir die Sintflut-Hedonismus. Die Spaßgesellschaft blüht in den Ritzen einer militarisierten und auf Fatalismus basierenden Kultur mehr denn je. Die alltagskulturelle Devise lautet: Wir lassen uns das Leben nicht verbieten!

Konsequenz ist eine globale Hochsicherheitsgesellschaft oder Fortress World (ähnlich wie heute in Israel). Scharfe Kontrollen gehören zum Alltag. Razzien, elektronische Überwachung werden hingenommen und in den Alltag integriert. Geheimdienste und Verfassungsschutz entwickeln sich zu Mega-Institutionen mit fast unbeschränkten Rechten. Die Gesellschaft militarisiert sich, ohne dies weiter zu problematisieren: Exekutionen mutmaßlicher Terroristen auf offener Straße werden schließlich normal. Zwischen der islamischen Welt und der westlichen Einflusssphäre wird eine neue Dschihad-Mauer gebaut (zuerst in Israel). Ausländer arabischer Herkunft werden in allen westlichen Ländern repressiv behandelt. Ein westlicher Block schirmt sich gegen den Rest der Welt ab und verteidigt seinen Wohlstand hartnäckig gegen den Rest der Welt.

Trotz aller Bedrohungen für die Weltwirtschaft entwickelt sich ein eigener Security Boom: Das Tracing jedes Individuums ­ Überwachung bis in seine intimsten Handlungen herein ­ wird ein gigantisches, Konjunktur förderndes Technologieprojekt. Die Sicherheitsbranche wartet mit neuen, sensationellen Technologien auf. Biometrie etwa, die Erkennung von Personen an ihren genetischen Merkmalen, die Computeranalyse des weltweiten Daten- und Kommunikationsstroms und ein neuer, privater Hochsicherheitsflugverkehr erzeugen eine eigene Wirtschaftsblüte. Die Abhängigkeit vom (arabischen) Öl wird durch schnellen Ausbau von hoch technologischen Alternativenergien ohne Sicherheitsrisiken überwunden (Brennstoffzelle, großflächige Solarenergie, neue Kohleverstromung). In der Folge blühen einige afrikanische Länder rund um die Sahara auf und stabilisieren das fragile Weltgleichgewicht wieder.

Welches dieser Szenarien wird der Wirklichkeit der nächsten Jahre am nächsten kommen? Am Ende wird die Realität eine Mischung aus diesen Bildern darstellen. Aber es wird keine gleichförmige Mischung sein ­ eines der Szenarien wird überwiegen.

Auf der Homepage des Zukunftinstitutes http://www.zukunftsinstitut.de/ werden unter dem Stichwort Szenario die vier Möglichkeiten zur Abstimmung angeboten. Das Kollektiv der Zukunftsinteressierten entscheidet über die Wahrscheinlichkeit der Zukunft oder auch: Werden Sie selbst zum Prognostiker!

Abstimmungsergebnis am 25. Oktober; ca. 1500 Personen:


Deutsche Blockaden

Unser Volk ist auf politisches Handeln, auf das Definieren und Vertreten eigener Interessen, auf verantwortungsvolle Machtpolitik nicht eingestellt - Gastkommentar

Von Vera Lengsfeld

Die Terrorangriffe des 11. September haben wie der Mauerfall am 9. November 1989 tiefsitzende ideologische Blockaden aufgedeckt. Der Westen hatte sich nach dem voreilig ausgerufenen Ende der Geschichte in einer bequemen Antipolitik eingerichtet. Probleme wurden am Runden Tisch wegmoderiert. Wo das nicht ging, wurde in Konsensrunden eine Lösung so lange bearbeitet, bis alle damit leben konnten. Von den Politikern wurde gefordert, sich nicht mehr zu streiten, sondern allen alles recht zu machen. Und das war ein Angebot, das die wenigsten ablehnen wollten. Der Gedanke, dass die westliche Zivilisation es mit ganz neuen Herausforderungen zu tun haben könnte, wurde ignoriert. Dabei hat es an warnenden Zeichen nicht gefehlt. In Bosnien und Ruanda fanden Vernichtungskämpfe statt, die jeglichen Zivilisationsmustern widersprachen. Aber Ruanda war weit weg und Bosnien zu klein, um das allgemeine Harmoniestreben zu gefährden. Auch die Selbstmordattentate in Israel führten zu keinem ernsthaften Nachdenken darüber, ob die westliche Zivilisation neuartigen Bedrohungen ausgesetzt sein könnte.
Nun hat uns die Realität brutal eingeholt. Das internationale Netzwerk des Terrorismus und die Ausbreitung des islamischen Fundamentalismus hat sich in den Zentren der westlichen Welt zu einem Geschwür entwickelt, das entfernt werden muss: auch auf die Gefahr eigener partieller Beschädigung hin. Die alten Symbole - ob Friedensgebete, Mahngottesdienste, brennende Kerzen oder Dialogangebote - bleiben wirkungslos gegenüber terroristischen Gruppen und Staaten, die aus religiösem oder ideologischem Fanatismus den bewussten Zivilisationsbruch anstreben. Der Rückfall in die alten Rituale zeugt von einer tiefen Verunsicherung.

Wir Deutschen sind auf den Ernstfall nicht vorbereitet. Wir waren und sind auf politisches Handeln, auf das Definieren und Vertreten eigener Interessen, auf verantwortungsvolle Machtpolitik nicht eingestellt. Wir müssen wieder lernen, schnelle, möglicherweise harte politische Entscheidungen zu treffen, die denjenigen wehtun mögen, die immer noch die Wahrnehmung der Realitäten verweigern und es bei symbolischen Akten belassen möchten. Verantwortungsvolles Handeln bedeutet, dass Staaten, die antizivile Gruppen unterstützen oder dulden, zu einer Abkehr gezwungen werden. Im eigenen Land müssen wir die Ausbreitung fundamentalistischer Gruppen unterbinden und bestehende terroristische Netzwerke zerstören. Um die Zukunft zu meistern, bedarf es vor allem einer eigenen Identität.

Eine offene Gesellschaft kann ohne Patriotismus, ohne das Gefühl des Zusammenhalts, nicht existieren. Das unverzichtbare Bekenntnis zum "Wir", zur eigenen Lebensweise, die Unterscheidung vom "anderen", die in Amerika selbstverständlich ist, gilt bei uns nicht als opportun. Ebenso wird jede präzise Feindbestimmung vermieden. Stattdessen verbreitet sich eine Beschwichtigungs- und Besonnenheitsrhetorik, in der nahe gelegt wird, irgendwie seien die Amerikaner oder der Westen selber schuld. Nach der "Betroffenheit" wurde schnell vor "Überreaktionen", "Eskalation" und "Gewaltspiralen" gewarnt. Aber unausweichlich ist: Wir werden gemeinsam mit Amerika unsere Freiheit, unsere Lebensweise, unsere Kultur verteidigen müssen - oder wir werden getrennt geschlagen werden. Wir werden bestimmen müssen, was wir sind, was wir wollen, was uns nützt. Dazu gehört auch ein klares Bekenntnis zu unserer Wirtschaftsweise, die viele nur mit den Prädikaten "sozial" und "ökologisch", keineswegs aber mit dem Zusatz "frei" ertragen können. Dabei war es vor allem die freie Marktwirtschaft, die unser Land, die westliche Zivilisation vorangebracht hat. Die Gesellschaft stagniert und erstart immer dort, wo der freie Markt eingeschränkt, reguliert, administriert wird. Auch und gerade in der gegenwärtigen Situation brauchen wir nicht weniger, sondern mehr freien Markt. Nur wenn freier ökonomischer Wettbewerb umfassend und dauerhaft zugelassen wird, gibt es eine Chance für die armen Länder, aus ihrer Isolation und Rückständigkeit zu entkommen. Nicht Schutz vor wirtschaftlichen Erfolgsmodellen, sondern Teilhabe daran wird das Gefälle zwischen Arm und Reich abbauen. Dafür muss Westeuropa aber zuallererst das eigene Misstrauen gegenüber seinem Wirtschaftsmodell überwinden. Es ist kein Kulturimperialismus, wenn sich rückständige Gesellschaften nach westlichem Vorbild modernisieren, sondern wohl verstandenes Eigeninteresse. Arme Länder können nicht durch milde Gaben einer internationalen Sozialpolitik aus ihrem Elend erlöst werden. Sie müssen die Möglichkeit haben, zu den entwickelten Ländern in Konkurrenz treten zu können. Die westlichen Demokratien wiederum können am meisten für ihre Selbstbehauptung tun, wenn sie lernen, diese Konkurrenz zu ertragen.

Freiheit, Demokratie und Wohlstand sind die moderne Trias, die wir zu verteidigen haben. Nietzsche hat den Willen zur Selbstbehauptung einen "starken Pessimismus" genannt. Wir brauchen mehr von dieser Stärke. Feigen Optimismus hatten wir genug.

Vera Lengsfeld, Bürgerrechtlerin, ist seit 1990 Mitglied des Deutschen Bundestages, seit 1996 in der CDU-Fraktion.



Volker Koop
Die Zeit der "Sonntagsreden" ist jetzt vorbei
Das Ende der "Fun-Gesellschaft"?

Schon lange nicht mehr wurde die Forderung nach einem generellen "Umdenken" so oft erhoben wie nach den Anschlägen von New York und Washington. Uni sono hieß es, nichts sei mehr so wie vor dem 11. September, zusammenrücken müsse man, und das definitive Ende der "Spaßgesellschaft" wurde ausgerufen. Aber es gibt auch andere Stimmen. Der Münchener Publizist Michael Miersch beispielsweise meint, in einem womöglich kommenden Krieg gegen den islamistischen Terrorismus würden nicht zuletzt "die Freiheit und das Existenzrecht aller Minderheiten und auch der scheinbar wertelosen ,Spaßgesellschaft'" verteidigt. Auch unpolitisch zu sein, das Recht, sein Leben einfach genießen zu wollen, seien "erhabene Menschenrechte, nicht schlechter und unwichtiger als andere". Zum Kern aller westlichen Werte gehöre auch "die Wahl, nicht in Kirche, Synagoge oder Moschee zu gehen, die Wahl, militärische Symbolik manchmal albern zu finden, lieber Rock 'n' Roll als Nationalhymnen zu hören".
Mut zur Offenheit kann man Miersch nicht absprechen, auch wenn seine Vorstellungen nicht überall auf Gegenliebe und Verständnis stoßen dürften. So erinnert Gernot Erler, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, daran, dass in den Trümmern des World Trade Center Menschen aus mehr als 80 Nationen ihr Leben gelassen hätten. Sie alle habe eines miteinander verbunden: "Sie standen für Freiheit, Demokratie und das friedliche Miteinander unterschiedlicher Kulturen und Religionen." Nichts veranschauliche deutlicher, dass sich dieser Angriff gegen die Fundamente unserer Gesellschaftsordnung gerichtet habe. Nach dem 11. September könne man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen und so tun, als ob nichts geschehen sei, sagte Erler. Auf erschreckende Weise sei auch den Deutschen vor Augen geführt worden, dass Freiheit, Wohlstand und Toleranz keine Selbstverständlichkeiten seien, sondern immer wieder aufs Neue verteidigt werden müssten. Zwar müssten die Verantwortlichen der Attentate und ihre Unterstützer unmittelbar zur Verantwortung gezogen werden, doch die eigentliche Auseinandersetzung mit den facettenreichen Spielarten geistiger Intoleranz - sei es die missbrauchte Lehre des Islam oder eine andere Heilsphilosophie - werde noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte geführt werden müssen. Politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Maßnahmen müssten zusammen gebündelt und zu einem wirksamen Instrument gegen den Fanatismus ausgebaut werden. Erler: "Dies ist nicht nur die Aufgabe einer Regierung, sondern der gesamten Gesellschaft."

Gründliches Nachdenken

Ein gründliches Nachdenken über die Konsequenzen aus den Terroranschlägen fordert Roland Claus, Vorsitzender der PDS-Bundestagsfraktion: "Es muss verhindert werden, dass die Logik der Attentäter, die eine Logik des Todes und des Hasses ist, zur Logik der Gesellschaft wird. Wenn dem globalisierten Terror der globalisierte Krieg folgt, hätte nicht die Zivilisation, sondern der Terror gewonnen", warnt Claus. Der Logik der Attentäter müsse die der zivilisierten Welt entgegengesetzt werden. Die PDS-Fraktion sei mit der USA-Regierung völlig einig darin, dass die Verantwortlichen für die Anschläge rasch gefunden und bestraft und dass dabei selbstverständlich auch repressive Maßnahmen angewandt werden müssten. Aber die PDS-Fraktion habe dem NATO-Ratsbeschuss die Zustimmung verweigert, weil sie einen Krieg nicht für das geeignete Mittel halte. Der Einsatz "jeder notwendigen Waffe des Krieges" in einem "langen, bisher noch nicht erlebten Feldzug", wie es Präsident Bush angekündigt habe, würde erneut das Leben vieler Unschuldiger fordern und eine Spirale der Gewalt auslösen. Erforderlich sei es jedoch, den Teufelskreis von Rache und Vergeltung zu durchbrechen. Wichtig sei es, sich mit dem Nährboden, auf dem Hass und Terror gedeihen könnten, gründlicher als zuvor zu befassen. Claus: "Es gibt unerhört viel Elend, es gibt eine immer tiefer werdende Kluft zwischen Arm und Reich. Eine ,Fun-Gesellschaft' hat für die Mehrheit der Weltbevölkerung noch nie existiert. Menschenwürde und Frieden aber müssen unteilbar sein."
Auf das Zusammenstehen der Amerikaner nach den Anschlägen verweist der CDU-Abgeordnete Albrecht Feibel. Die USA und ihre Menschen seien in diesen Tagen ein lobenswertes und nachahmenswertes Vorbild, und auch die Deutschen täten in diesen Zeiten gut daran, sich darauf zu besinnen, dass sie eine Nation, eine freiheitliche und streitbare Gesellschaft seien, die es gegen den Terror zu verteidigen gelte. Nach den Terroranschlägen sei es erforderlich, sich von der "Spaßgesellschaft" zu verabschieden und sich wieder der "Verantwortungsgesellschaft" zuzuwenden. Feibel: "Das heißt nicht, dass wir keinen Spaß mehr haben dürfen. Aber wir müssen alle mehr Verantwortung übernehmen, wenn wir weiter in Frieden und Freiheit leben wollen." Diese Verantwortung habe ganz konkrete Formen. Es müsse gelingen, auch den Menschen in den armen Ländern mehr Wohlstand zukommen zu lassen. Deshalb müssten deren gut ausgebildete Handwerker, Ärzte, IT-Spezialisten usw. dort beim Aufbau mitwirken. Sie dürften nicht abgeworben werden, um den Wohlstand in Deutschland zu sichern oder gar zu vergrößern: "Wir Deutsche müssen mehr dafür tun, dass in diesen Ländern auch Wohlstand geschaffen wird und die Menschen weniger anfällig für den Terror werden." Im Übrigen müsse es zu einem größeren Zusammenhalt in der Gesellschaft kommen. Die vor uns liegenden Aufgaben seien derart gewaltig, dass niemand allein sie meistern könne.

Der Schock sitzt tief

"Egal, in welcher Lebenssituation die Bilder vom 11. September den Einzelnen getroffen haben: Niemand kann danach einfach zur Tagesordnung übergehen", ist die tiefe Überzeugung des CSU-Abgeordneten Klaus Holetschek. Für den kirchenpolitischen Sprecher der CSU-Landesgruppe ist klar: "Die Fun-Gesellschaft hält den Atem an. Der Schock sitzt tief und wird Konsequenzen haben. Persönliche Probleme relativieren sich, Prioritäten des persönlichen Lebens werden überdacht. Schon prognostizieren Wirtschaftsfachleute einen Rückgang im Konsumverhalten." Wer meine, die bisherige Ordnung sei allein mit noch größeren Sicherungsmaßnahmen wieder herzustellen, dem hätten die fanatischen Terroristen eine furchtbare Lektion jenseits aller bisheriger Vorstellungskraft erteilt. Und doch könne, so Holetschek, der Schock heilsam sein, Zeit zur Besinnung geben und das Miteinander stärken, das Grundlage jeder Friedensbemühung sei. Statt: "Wie geht es mir?" zu fragen: "Wie geht es dem anderen?", wäre eine menschliche Folge einer unmenschlichen Tat. Zusammenrücken, Solidarität, die Besinnung auf verbindende Werte, diese Konsequenzen sollten nicht nur in Sonntagsreden, sondern im täglichen Leben gezogen werden.



Der Artikel: "Die Zeit der Sonntagsreden ist jetzt vorbei" erschien im PARLAMENT 40, alle anderen Artikel sind in der WELT erschienen.